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Kultur: Käpt’n Blaubeertorte

Frank Castorfs „Schuld und Sühne“ an der Berliner Volksbühne

Die besten Filme, das hat Quentin Tarantino gesagt, sind wie gute Freunde. Man setzt sich gern mit ihnen hin, vertieft sich ins Gespräch, findet immer wieder Spaß aneinander und entspannt sich. Kino muss sein wie eine Lounge, wo Menschen und Dinge sind, die man braucht und die man gern hat. Chillen bei „Kill Bill“.

Eine schönere Beschreibung für Frank Castorfs Theater gibt es nicht, schließlich gehören Tarantino und Co. zu den Hausgöttern der Volksbühne. Castorf demonstriert seit Jahren, dass Dostojewski der Vorläufer aller Pulp-Fiction-Schreiber war und dass wir uns die Petersburger Nächte, ob weiß oder tiefblau, als serielle Debattierveranstaltungen über Gewalt, Sex und Ideologie vorzustellen haben.

Mit „Schuld und Sühne“ ist Castorf am Ende der russischen Verbannung angekommen. Nach diesen Sitzfleisch fressenden fünfeinhalb Stunden, nach den „Dämonen“, nach „Erniedrigte und Beleidigte“, nach „Der Idiot“ (Bulgakows „Meister und Margarita“ gab’s auch noch zwischendurch) fehlen selbst dem geduldigsten Volksbühnen-Freund die Kraft und die Fantasie, sich eine weitere Dostojewski-Folge („Die Brüder Karamasow“?!) auszumalen. Lieber nicht.

Es lässt sich nicht länger leugnen – in der Volksbühnen-Dostojewski-Lounge macht sich Erschöpfung breit. Eine Erschöpfung von Wagnerischer Dimension. Zum Schaum wird hier die Zeit. Der verdammte Gral, der Dostojewski-Gott, will sich einfach nicht offenbaren in Bert Neumanns Containern. Da können sie mit der Videokamera noch so dicht an Weichteile und harte Bühnenbretter heranzoomen. Die Bühne kreist und kreist, der Drehwurm ist drin. Nie wirkte Martin Wuttke so hyperaktiv wie jetzt, als Raskolnikow, der Mörder im Größenwahn. Er muss eine geistige und ästhetische Leere überspielen, die nur gelegentlich noch zu füllen ist – mit fabelhaftem Slapstick. Wuttke und Hendrik Arnst beim Essen: Erst kommt das Kotzen, dann die Moral. Wuttke, Milan Peschel und Thomas Thieme beim Versuch, einen Tapeziertisch samt Blaubeertorte auf dem Balkon aufzuschlagen: gigantische Stümper! Das erinnert an die schönsten Dostojewski-Teile, an Henry Hübchen und den Liegestuhl („Dämonen“), an Hendrik Arnst und die Gehwegplatten („Erniedrigte und Beleidigte“). Es sagt viel, wenn in „Schuld und Sühne“ (die erste Premiere war im Mai bei den Wiener Festwochen) die Ekelszenen die komischsten und die ruhig und konventionell gespielten Verhöre Raskolnikows durch den Untersuchungsrichter Porfirij noch die stärksten Momente sind.

Thieme gibt sein Debüt im Castorf- Club, Thiemes Präsenz tut ungeheuer gut. Sein Dickschädel, sein grummeliger Wanst von TV-Ermittler stellt klar, was der heiße Kern von „Schuld und Sühne“ auf der Bühne nur sein kann: der Zweikampf von Autorität (Porfirij) und Anarchie (Raskolnikow). Vor vielen Jahren hat Andrzej Wajda diesen Dostojewski in Krakau und in Berlin, an der Schaubühne, in Szene gesetzt: als Kammergerichtsspiel. Dass Castorf so etwas könnte, sieht man hier.

Es interessiert ihn nicht. Castorf benutzt Dostojewski als schwarzen Boten des Ostens, der dem Westen Verwahrlosung und Untergang prophezeit. Man kann es auch Globalisierung nennen: der Pyrrhus-Sieg des Kapitalismus. Endlosschleife, Endlossteife. Immer sehen die Volksbühnen-Frauen wie Nutten aus, und die Männer benehmen sich wie Freier, die nicht drankommen oder ihre Impotenz mit Gerede überspielen. Gestrichen das Erlösungsmotiv – bei Dostojewski ist es die Prostituierte Sonja, die Raskolnikow rettet und nach Sibirien begleitet. Nichts ist mit Läuterung, die Parole lautet hiergeblieben! Höchststrafe! Ewig weiter im irdischen Jammer- und Klammertal. Nichts mit Relaxen unter guten alten Freunden und Mafiosi wie bei den ersten Dostojewski-Aufzügen. Sie haben sich festgebissen, sie hängen, kleben aneinander – und Sir Henry geizt neuerdings mit dem musikalischen Background.

Wenn man so will, ist dieser letzte (?) Dostojewski der russischste. Wer glaubt denn, dass es ein Vergnügen sei, dicke Bücher zu lesen, wo auf jeder einzelnen Seite die Welt verbessert und der Mensch umerzogen werden muss? Fährt man nachts am Volkssühnezeichen, dem Rad mit den Füßen, vorbei, sieht man: Im Kreml brennt noch Licht. Rotlicht. Der neue Hausregisseur bei Castorf heißt übrigens Andriy Zholdak und kommt aus der Ukraine.

Wieder am 14. und 28. Oktober.

Rüdiger Schaper

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