zum Hauptinhalt
Kalle heißt eigentlich Pascal und lebt bei seiner allein erziehenden Mutter.

© Günther Kurth

„Kalle Kosmonaut“ in der Berlinale-Reihe Generation: Er ist ein guter Junge, aber etwas läuft schief

Tine Kugler und Günther Kurth begleitet in ihrer Langzeitdokumentation „Kalle Kosmonaut“ einen Teenager beim Aufwachsen in Berlin-Hellersdorf. Eine Begegnung.

Pascal, genannt Kalle, tritt im Februar 2011 in das Leben der Filmemacher*innen Tine Kugler und Günther Kurth. Damals sucht das Münchener Paar für eine ZDF-Reportage Schlüsselkinder und ihre Recherche führt Kugler auch nach Hellersdorf, in das Kinder- und Jugendwerk Die Arche in der Tangermünder Straße.

Dort geht irgendwann die Tür auf und ein Zehnjähriger mit vielen Sommersprossen kommt herein, setzt sich hin, erzählt, ist neugierig und zugewandt und in diesem Moment weiß Tine Kugler, so erzählt sie in einem Café im Prenzlauer Berg, dass sie ihren Protagonisten gefunden haben.

Seinen 18. Geburtstag erlebt Kalle in der Jugendstrafanstalt Plötzensee

Für ihre Langzeitbeobachtung „Kalle Kosmonaut“, der bei Generation 14plus läuft, haben sie auch Szenen von damals verwendet. Kalle ist darin ein Junge mit weichen Gesichtszügen, der morgens allein aufwacht, in der Arche Mittag isst, Fußball spielt, herumstromert und abends seine alleinerziehende Mutter beim Uno abzockt.

Bevor Kerstin, eine Frau mit Herz, Schnauze und Tattoos, ihre Frühschicht im Baumarkt beginnt, schreibt sie eine To-do-Liste: „Pascal, wenn du wach bist, ruf mich bitte an. Dann esse was und ziehe dich an. Kein Blödsinn“. Kalle aus der Allee der Kosmonauten wächst Münchner Duo ans Herz. Sie halten Kontakt zu Mutter und Sohn und beschließen dann gemeinsam, Kalle „beim Erwachsenwerden in Echtzeit“ zu begleiten.

Fünf Jahre später steht Kalle, mittlerweile 16, vor der Kamera, knabbert Sonnenblumenkerne, zieht an seiner Zigarette und hat Angst. Das Kindliche ist aus seinem Gesicht gewichen. Kalle weiß nicht, wie es mit ihm weitergehen soll. Er hat Mist gebaut, nicht zum ersten Mal. Drogen, schwere Körperverletzung. Er muss vors Gericht. Er bereut, reflektiert seine Situation, aber wie es wirklich in ihm aussieht, kann er nicht in Worte fassen: „Ich bin nur noch kalt“, sagt er. Kurz darauf wird er zu 27 Monaten Haft verurteilt. Seinen 18. Geburtstag erlebt Kalle in der Jugendstrafanstalt Plötzensee.

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]

„Kalle Kosmonaut“ ist kein objektiver Bericht, keine anklagende Sozialreportage, sondern das intime Porträt eines Jungen aus Hellersdorf. Immer wieder gleitet die Kamera an den Plattenbauten entlang, deren Balkone mal bunt bepflanzt, mal mit Deutschlandfahnen behangen sind. Nachts erleuchten die Fenster und hinter jedem verbirgt sich eine Geschichte.

„Hellersdorf wird das It-Viertel der kommenden Dekad“, sagt Günther Kurth, „Aber ich sehe das sicher etwas verklärt, weil ich das alles mit Kalle zusammen entdeckt habe“. Als Kugler und Kurth 2013 die Dreharbeiten fortsetzten, ahnte niemand, dass Kalle straffällig werden würde. Wie viele Teenies steht er auf Hip-Hop, hängt er im Park oder am Kaulsdorfer See ab. Erste Liebe, Jugendweihe, Mutproben, Streitereien mit der Mutter.

Einige Sequenzen von "Kalle Kosmonaut" hat der Künstler Alireza Darvish mit Animationen visualisiert.
Einige Sequenzen von "Kalle Kosmonaut" hat der Künstler Alireza Darvish mit Animationen visualisiert.

© Zeichnung: Alireza Darvish

Bei seinen Freunden taucht schon mal das Jugendamt auf, aber Kalle will „kein Ghettokind“ ohne Zukunft sein. Herzstück des Films sind Gespräche, in denen Kalle von sich und seinen Träumen erzählt, von der Sehnsucht nach einem Vater. Man spürt, dass er dem Filmteam vertraut. „Wir haben uns das nicht ausgesucht, aber wir sind wirklich Freunde geworden“, sagt Tine Kugler. Sie haben Kalles Familie kennengelernt – auch den Bruder, der in Baden-Württemberg lebt, die Oma und deren Lebensgefährte, der sagt, dass sein Leben in der DDR besser gewesen sei.

Die über Jahre entstandene Nähe ist das Fundament ihres Films. Was sie nicht mit der Kamera aufnehmen konnten – Kalles Innenleben, die Straftat oder die Haftzeit – vermitteln im Film Animationen, die der Künstler Alireza Darvish angefertigt hat. Es sind dunkle, atmosphärische Bilder mit kräftigem Strich, die von etwas Realem erzählen und mitunter wie ungute Träume wirken, die Kalle im Knast und danach tatsächlich auch plagen.

[12.2., 17.30 Uhr (Cubix 8), 13.2., 14 Uhr (Cineplex Titania), 17.2., 12 Uhr (CinemaxX 1+2), 17.2., 12 Uhr (Cinemaxx 2), 19.2., 9.30 Uhr (Filmtheater am Friedrichshain)]

Weder Kalle noch seine Familie werden vorgeführt. Der Film beobachtet, fragt, versucht zu verstehen. Kalle „ist ein lieber Kerl“, sagt die Polizistin Antje, die die ihn lange kennt. Auch Sozialarbeiter Samuel hält viel von ihm. Warum ist er also auf die schiefe Bahn geraten?

Das fragt sich nicht nur die Mutter, die ihn oft allein lassen musste, sondern auch die Großmutter, die ihren Kummer oft im Alkohol ertränkte. War es das Leben auf der Straße? Falsche Leute? Oder eine Gesellschaft, in der eben nicht alle die gleichen Chancen haben? Der Film gibt keine Antwort. Auch Günther Kurth macht sich Vorwürfe. Ausgerechnet als der Junge Probleme hatte, war der Kontakt wegen eines Projekts nicht da. „Hätte, hätte, Fahrradkette“, sagt Kalle einmal im Film.

Nach seiner Haftentlassung muss er zurückfinden in sein Leben. Die Einsamkeit, die Langeweile in der Zelle hat Spuren hinterlassen, er hat Schulden, es gibt Tage, da kann er nichts machen. Aber Kalle gibt nicht auf. „Mein Leben soll nach oben gehen“. Tine Kugler und Günther Kurth schenken ihm zum Ende des Films hoffungsvolle Bilder.

„Ich habe immer davon geträumt, eines Tages mit Kalle auf dem roten Teppich zu stehen“, sagt Kurth. Nun ist dieser Traum elf Jahre nach ihrer ersten Begegnung in Erfüllung gegangen: bei der Weltpremiere von „Kalle Kosmonaut“ bei der Berlinale im Haus der Kulturen der Welt.

Kirsten Taylor

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false