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Traditionsreich. Das Literaturhaus in der Fasanenstraße hat in der Pandemie seine Reichweite erhöht.

© Phil Dera

Wie das Literaturhaus Berlin auf die Pandemie reagierte: Kamera läuft

Das Publikum kehrt in die Literaturhäuser zurück, doch die Zukunft sind hybride Formate. Die Digitalisierung bringt viele Vorteile. Ein Ausblick.

Wenn dieser Tage Autor:innen in den Großen Saal des Literaturhaus Berlin zu einem Livestream kommen, staunen und lachen die meisten: „Wie sieht es denn bei euch aus?!“ Wo früher Stuhlreihen waren und bis zu 80 Zuschauer:innen Platz fanden, stehen nun Kameras, Scheinwerfer und Bildschirme, deren Kabelstränge sauber mit Gaffa auf dem historisch nachempfundenen Zwanzigerjahreteppich verklebt sind.

Auch die jeweilige Vorbesprechung dreht sich dann zum größten Teil um technische Details: „Bitte schauen Sie in diese Kamera, wenn Sie sich direkt ans Publikum wenden möchten.“ Oder: „Über dieses Headset hören Sie Ihre zugeschalteten Gesprächspartner:innen und dort sehen sie auf den Screen.“

Nach wenigen Minuten lauschen alle

Wenn der Vorspann und unsere Begrüßung durchlaufen und „Fliege“ und „Bauchbinde“ (ja, diese "termini technici" der Fernsehwelt haben wir inzwischen im Schlaf drauf) eingebunden sind, beginnt die Veranstaltung – und dann, endlich, geht es um die Literatur. Spätestens nach den ersten Minuten entspannen sich alle vor und hinter der Kamera und lauschen den Autor:innen.

Klingt gut? Ist es auch, wie man sehen wird. Doch zunächst gilt es über eine schmerzhafte Leerstelle bei digitalen Lesungen zu sprechen: das stumme Publikum. Zwar sehen wir im Livestream, wie viele Zuschauer:innen zusehen, doch wissen wir fast gar nichts über diese: Hängen sie den Autor:innen an den Lippen? Oder fragen sie ihr Kind im Hintergrund noch die letzten Vokabeln des Homeschooling-Tages ab? Und was denken sie über die Lesung?

Wo es sonst im Zuschauersaal vorfreudiges Geraschel, konzentriertes Gemurmel oder Gelächter gab, herrscht im digitalen Raum bedrückende Stille. Dieser Abstand scheint momentan noch ein unüberwindbarer Graben, den wir dringend überbrücken wollen, zum Beispiel indem wir über die Chatfunktion unser Publikum zu animieren versuchen, uns Fragen und Kommentare zu schreiben.

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Doch ähnlich hilflos wie wir scheint auch der Großteil der Zuschauer:innen, die sich diese Form der Beteiligung noch nicht angeeignet haben. Ob sie es jemals tun werden, ist schwer zu sagen. Immerhin gab es kürzlich einen recht munteren Austausch bei unserer Veranstaltung.

„Sie können aber gut Deutsch! Neue deutsche Gegenwartsliteratur“, die eher ein jüngeres Publikum angesprochen hat. Ist es also eine Generationenfrage oder doch nur eine der Gewöhnung? Oder gibt es Veranstaltungen, die besser als andere im digitalen Raum funktionieren? Wie muss eine Lesung also beschaffen sein, dass sie nicht einfach nur wie mittelgutes Fernsehen wirkt, sondern zur Interaktion auffordert?

Das ist nur ein Bruchteil der Fragen, die wir uns momentan täglich stellen. Warum sollten wir die großen digitalen Fortschritte verleugnen, nur weil (vielleicht) bald alles wieder „normal“ ist? Denn diese Fortschritte waren nicht zuletzt auch kreative Herausforderungen, weil wir alle uns noch einmal neu mit der hergebrachten Form der Literaturveranstaltung auseinandersetzen mussten – und wie sich diese produktiv ins Netz verlagern lässt.

Sonja Longolius leitet seit 2018 gemeinsam mit Janika Gelinek das Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße.

© Literaturhaus/Phil Dera

Umfragen zufolge sind fast alle Literaturveranstalter:innen entschlossen, die entwickelten digitalen Formate fortzuführen. Aber wie und unter welchen Bedingungen, das weiß gerade noch niemand so genau. Das Schlagwort des „lebenslangen Lernens“ jedenfalls ist auch in Literaturhäusern Realität geworden.

Aus uns Programmgestalterinnen sind inzwischen auch gute Videoredakteurinnen geworden, unsere Bühnentechniker sind mittlerweile valide Kamera- und Schnittprofis, die Öffentlichkeitsarbeit findet fast ausschließlich im Netz und in allen erdenklichen sozialen Medien statt.

Wir sind jetzt in der Lage, unserem Publikum auch über die Pandemie hinaus digitale Lesungen ästhetisch ansprechend anzubieten. Doch digitale Kulturveranstaltungen können und sollen nicht das physische Erlebnis einer Bühne mit vollem Zuschauersaal ersetzen.

Wir können Autorinnen aus Kenia zuschalten

Spannend wird es, wenn wir die digitalen Möglichkeiten nicht nur als Surrogat behandeln. So können wir nun Autor:innen aus weit entfernten Regionen, wie letztens Yvonne Owuor aus Kenia, zuschalten. Oder solche, die nicht mehr reisen können oder wollen, wie die fast hundertjährige Ilse Helbig aus Österreich.

Hier hat die Digitalisierung einen entscheidenden Vorteil, denn eine Zuschaltung ist auch noch deutlich klimafreundlicher als eine Flugreise. Und sie ermöglicht uns, Lesungen in der Originalsprache simultan gedolmetscht anbieten zu können, wie vor wenigen Wochen mit der italienischen Autorin Claudia Durastanti, oder gerade mit Juan Gabriel Vásquez aus Kolumbien – was das internationale Publikum dankend annimmt.

Aber auch unser Publikum vor Ort profitiert von den digitalen Formaten, genießt die neue Flexibilität, die es Besucher:innen mal eben ermöglicht, sich abends oder eben Tage später ins Literaturhaus Berlin dazu zuschalten, ohne aufwendige Anreise und ohne unüberwindbare Treppenstufen zum Großen Saal unseres denkmalgeschützten, aber noch nicht barrierefreien Hauses.

Kultur darf nicht umsonst sein

Eine andere Besonderheit des Digitalen: Es ermöglicht größere Diversität, ermutigt Menschen aus unterschiedlichen sozialen Strukturen und Bildungsmilieus teilzuhaben an der kulturellen Vielfalt dieses Landes. Klingt gut? Ist es auch, und doch stellen sich weitere Fragen. Etwa ob digitale Lesungen etwas kosten und wie lange Onlineformate zugänglich bleiben sollten. Kultur darf nicht umsonst sein, wird uns manchmal entgegengehalten.

Doch die Erfahrungen der letzten Monate haben uns im Gegenteil gezeigt, dass Kultur in diesem Land, das sich zu Recht eine großzügige Kulturförderung leistet, die kulturelle Teilhabe auf noch breitere Füße stellen und Autor:innen, neben angemessenen Honoraren, neue Formate ermöglichen sollte.

Damit die ihre Bücher präsentieren und letztlich auch verkaufen können. Der digitale Büchertisch im Netz, der so entsteht, ist ganz nebenbei auch noch ein wunderbares Archiv von Lesungen, das jederzeit erlebbar und damit lebendig ist. Dies ist ein weiterer wichtiger Vorteil des Digitalen. Wie oft haben wir uns früher nach einem schönen Abend im Großen Saal gewünscht, es hätte eine Möglichkeit gegeben, diesen festzuhalten und auch anderen zugänglich zu machen!

[Sonja Longolius leitet seit 2018 gemeinsam mit Janika Gelinek das Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße.]

Auch wenn Kulturinstitutionen jetzt langsam wieder öffnen: Wir alle werden erst lernen müssen, wie Veranstaltungen unter den neuen Bedingungen möglich sind; was es mit dem gemeinschaftlichen Kulturerlebnis macht, wenn Schutzmaßnahmen ein immer sichtbarer Teil jeden Abends sind, wenn nur ein Bruchteil des ursprünglichen Publikums präsent sein kann, der Raum immer auch von der Leere geprägt sein wird.

Spätestens dann sind hybride Formate zwingend notwendig, um die Teilhabe und Reichweite zu erhöhen, die die Kultur und ihre Akteure – und natürlich auch das Publikum – verdient haben. Denn Kultur darf nicht nur für die happy few sein, die dann noch im Großen Saal zugelassen sind – laut unseres derzeitigen Hygienekonzept sind das maximal 20 Personen.

Im Netz steigt die Reichweite

Die Zuschauer:innenzahlen im Netz sind bei uns hingegen oft drei-, manchmal gar vierstellig. Statt in der Digitalisierung also nach zwei Schritten vor wieder einen zurück zu gehen, bauen wir gerade den ersten deutschsprachigen Literaturkanal auf (unterstützt von der Kulturstiftung des Bundes), der zukünftig Lesungen in Kooperation mit verschiedenen Literaturhäusern und -veranstalter:innen streamen wird. Und damit dem Publikum eine Plattform für vielfältige Sendungen aus allen Ecken und Enden der literarischen Welt bietet.

Das ist in einer Fernsehlandschaft, die fast alle Literatursendungen eingestampft hat, nicht nur zwingend notwendig, sondern nachhaltig und zukunftsorientiert. Der neue Literaturkanal wird allen Zuschauer:innen Lesungen und Gespräche rund um die Literatur anbieten und neue Sendungen und Formate entwickeln, um Bücher und ihre Autor:innen auch im Netz wirken zu lassen.

Wenn wir kulturelle Teilhabe, Digitalisierung und Klimakrise wirklich ernst nehmen wollen, sollten wir das Wissen und die Fähigkeiten, die wir nicht zuletzt in der Pandemie gelernt haben, ausbauen und verstetigen – auch und gerade für die Literatur!

Sonja Longolius

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