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Kultur: Karaoke im Arbeiterviertel

Zürich hat sich zum Zentrum für Gegenwartskunst gemausert – und zu einem wichtigen Handelsplatz

Die Art Basel ist die Königin der Kunstmessen. Das weiß man inzwischen. Doch bezüglich der Galerien hat Zürich dem gemütlichen Städtchen am Rhein längst den Rang abgelaufen. Etwa 70 Aussteller von der ersten Adresse am Paradeplatz, dem alternativen Löwenbräuareal und dem früheren Arbeiterviertel Aussersihl überziehen die Stadt mit einem bunten und vitalen Kunstteppich. An drei Tagen fand nun die herbstliche Saisoneröffnung mit Rundgängen durch die einzelnen Quartiere statt – von klassisch bis hip.

„This ain’t no Karaoke“ heißt der Titel der erst vor wenigen Monaten eröffneten Galerie Haas & Fischer. Gerade einmal 28 Jahre alt ist Roger Haas, vertritt aus Überzeugung Künstler seiner Generation und ist so klug, sich beraten zu lassen. Die 15 Künstler und Künstlerinnen, darunter Marc Séguin, Meredyth Sparks, Vincent Geyskens hat er sich von dem New Yorker Kurator Max Henry empfehlen lassen. Die Künstler verbinden archaische Skulpturen mit Reflexionen über Themen wie Brutalität und Gentechnologie. In der Zusammenstellung von den meistgesuchten Ayatollahs in Frauenkleidern von Ségiun und den fluoreszierenden, sich im übertragenen Sinn die Seele aus dem Leib kotzenden Geistern von Andrew Guenther entsteht ein doppeltes und dreifaches Vexierbild, das die Realität in ihrer Medienpräsenz schonungslos bloßlegt. Haas & Fischer haben sich ganz bewusst in dem Prostituiertenviertel mit den Dönerbuden und der Cantina Sala Thai angesiedelt. „Hier sind die Preise noch erschwinglich und die Solidarität unter den Kollegen ist groß“, sagt er. Ein weiterer Vorteil ist die räumliche Nähe: Die Galerien sind noch leicht zu Fuß zu erreichen: „Les Complices“, in Basel in diesem Jahr auf der Liste 06 dabei, gehören wie die Gallery Staubkohler, zu den hot spots. Ein bisschen länger im Viertel ist Marlene Frei, angesiedelt in einem idyllischen Hinterhofgarten und spezialisiert auf Zeichnungen der Extraklasse. Bis zum 18. Oktober zeigt sie die großformatigen wie filigranen Tuschearbeiten der 1967 geborenen Sandra Boeschenstein, deren Stipendium an der Stuttgarter Akademie Schloss Solitude zu einer wunderbaren Publikation mit dem Titel „Was sind deine Reste“ geführt hat. Auch Brigitte Weiss hält seit Jahren in dem Quartier die Stellung. Bis zum 14. Oktober zeigt sie Collagen und Skulpturen der in Wien lebenden Christina Zurfluh.

Entfacht eine junge und freche Galeristengeneration in den schmucklosen Straßen des ehemaligen Arbeiterviertels vor allem Entdeckerfreude, durchmischen sich im Löwenbräuareal unter den Dächern der aufgepeppten früheren Industriebrache öffentliche und private Ausstellungsräume zu einer Kunstwelt im Kleinen: Neben den auf vier Stockwerken angesiedelten Galerien und dem Migros Museum installierte die private Daros-Stiftung für südamerikanische Kunst eine begehbare Groß-Installation von Ernesto Neto. Im Hof betreibt der Star-Auktionator Simon de Pury zusammen mit Daniella Luxembourg eine Galerie, die derzeit die zu Doppelhelixen gebogenen bronzenen Kruzifixe des Belgiers Wim Delvoye und Design von Ron Arad zeigt. Nicht auszuschließen, dass die eine oder andere Arbeit auch zur Auktion kommt.

Bei Hauser & Wirth kann man sich von der Amerikanerin Mary Heilmann einen „Saturday Night Kiss“ geben lassen und in ihren bonbonfarbenen geflochtenen rollenden Sesseln zu ihren abstrakten Arbeiten aus 25 Jahren schweben. Leichtigkeit und Intellektualität zeichnen ihre Malerei aus. „Die Punkte habe ich von Polke geklaut“, scherzt die 1940 geborene Amerikanerin mit dem Blick auf eine Leinwand, „und möglicherweise an Damien Hirst weitergereicht.“

Eine Etage weiter hat Eva Presenhuber ihre großzügigen Räume dem 1960 in Hongkong geborenen Bildhauer Mark Handforth zur Verfügung gestellt. Seine Neoninstallationen und Gemälde hat er zuletzt bei Modern Institute in Glasgow und im Kunsthaus Zürich gezeigt. In der Galerie Presenhuber hat er nun einen Davidstern aus sich überlagernden Neonröhren auf dem Boden ausgelegt.

Vor acht Jahren blickte die Ausstellung „Freie Sicht aufs Mittelmeer“ im Kunsthaus Zürich mit einem Slogan der Jugendbewegung in den Achtzigern auf den Aufbruch der kulturellen Szene zurück. Damals erkämpfte sich eine aufgeschlossene Szene Freiräume in der Roten Fabrik und der Shedhalle am Seeufer. Was in diesen Laboren in der Mischung aus Kunst, Lehre und Diskurs ausgebrütet wurde, blieb nicht folgenlos. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Galerien nachzogen. Doch erst der Kunstmarktboom der letzten Jahre führte dazu, dass sich zu den seit Jahrzehnten von Zürich aus international agierenden Galerien wie Bruno Bischofsberger, Jamileh Weber, Mai 36, Lelong und Annemarie Verna neue und jüngere Galerien dazugesellten. Ein Schritt der sich für die Galeristen offenbar lohnt: Mehr als 500 Besucher sind bei den Vernissagen keine Seltenheit. Doch es ist nicht nur eine reiche Sammlerklientel, die dafür sorgte, dass sich Galerien wie Gmurzynska, Arndt & Partner und Haunch of Venison in jüngster Zeit in Zürich niedergelassen oder eine Dependance eröffnet haben. Die Schweiz ist nach wie vor eine Folgerecht-freie Zone, und die Abwicklung der Geschäfte wird durch Freizolllager sowie die steuerlichen Bedingungen noch erleichtert.

Die Stadt scheint zudem erkannt zu haben, dass eine reiche und intellektuelle Elite, wie sie in Zürich zu Hause ist, nicht nur mit Edelboutiquen und teuren Uhrenläden zufriedenzustellen ist. Newcomer werden ausdrücklich willkommen geheißen. „Der Stadtpräsident hat uns einen Empfang ausgerichtet, um uns hier einzuführen“, sagt Krystyna Gmurzynska, die im Dezember 2005 ihre Galerie am Paradeplatz eröffnet hat, „in Köln hat man unsere Ausstellungen und die Publikation von 200 Büchern nur noch für selbstverständlich genommen.“ In Zürich leistet sich die Galerie den Luxus, den Niederländer Rudi Fuchs und den Griechen Christos Joachimides Ausstellungen mit Künstlern ihrer Heimat kuratieren zu lassen. Am 22. September nutzt der Fotograf, Installationskünstler und Designer Hedi Slimane die gesamte Glasfront der Galerie gleich neben der Schokoladenschatulle Lindt & Sprüngli, um im Banken- und Luxusshopping-Viertel der Bahnhofsstraße mit einem transparenten Foto einen verwirrenden Akzent zu setzen. Auch das macht das neue Zürich aus: Kauflust, Konsum und Kritik sind hier kein Widerspruch.

Newcomer

Les Complices

Anwandstraße 9

www.lescomplices.ch

Staubkohler

Rotwandstraße 53

www.staubkohler.com

Haas & Fischer

Sihlhallenstraße 19

www.haasfischer.com

Zugewandert

Gmurzynska

Paradeplatz 2

www.gmurzynska.com

Arndt & Partner

Lessingstraße 5

www.arndt-partner.com

Haunch of Venison

Lessingstraße 5

www.haunchofvenison.ch

Löwenbräuareal

Limmatstraße 264 –270

Hauser & Wirth

www.hauserwirth.com

Eva Presenhuber

www.presenhuber.com

Bob van Orsouw

www.bobvanorsouw.ch

Weitere Galerien unter

www.dzg.ch und www.galleries.ch

Claudia Herstatt

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