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Kultur: Kindheit im Kühlschrank

Die Situation vieler Minderjähriger in Deutschland ist laut Experten eine „nationale Katastrophe“. Was machen Erwachsene falsch?

Von Caroline Fetscher

Das verendete, in den Kühlschrank verfrachtete Kind, zu Lebzeiten jeden Schutzes beraubt, totgeschlagen dann dem Frostgerät in der elterlichen Küche überantwortet: Krasser könnte sich kein Literat eine Metapher für Kälte gegenüber Kindern ausmalen. Den Straftätern schallt in Gestalt von Boulevard-Schlagzeilen ein gesellschaftlicher Aufschrei entgegen. Eine „nationale Katastrophe“ proklamiert der Deutsche Kinderschutzbund und knüpft seinen Befund an die aktuelle Armutsdebatte.

Kindesmisshandlung ist eine alte Geschichte und mitnichten beschränkt auf „die Unterschicht“. Dass wir alle „Vater und Mutter ehren“ sollen, proklamierte schon die Bibel nicht ohne Not. Nur unter Mahnen, Drängen und Drohen schien diese Haltung herstellbar, denn allzu oft boten und bieten Eltern zu ihr wenig Anlass. Im Abendland, so der Psychohistoriker Lloyd de Mause („Hört ihr die Kinder weinen?“) ist „die Geschichte der Kindheit ein Albtraum, aus dem wir eben erst erwachen“.

Kindesmisshandlung findet der Schweizer Philologe Peter von Matt, Autor einer Studie zum „Familiendesaster in der Literatur“, in allen Epochen und Schichten, etwa bei Gottfried Kellers „Der Grüne Heinrich“. Da übergibt die „hochgeborene und gottesfürchtige Frau von M.“ ihre „verstockte“ Tochter, das Meretlein, einem Pfarrer, der sie in Gottes Namen „corrigiren“ soll. Das Kind lässt sich durch keine Brutalität davon abbringen, dem Terror dieser Obhut entfliehen zu wollen, und der christliche Aufseher notiert nach vergeblicher Prügel: „Habe sie derowegen kürzlich verschnauffen lassen und dann in Arrest gebracht in die dunkle Speckkammer, allwo sie gewimmert und geklaget, dann aber still geworden ist.“

Lloyd De Mause unterscheidet sechs historische Phasen im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern: häufiger Kindesmord in der Antike, das Weggeben ungewollter Kinder im Hochmittelalter, Ambivalenz gegenüber dem Kind bis zum 17. Jahrhundert, daraufhin die gesellschaftliche Entdeckung der Kindheit, und schließlich im „psychologischen“ 20. Jahrhundert die Unterstützung eines reifenden Individuums. Das respektierte, geschützte Kind mit gütigen Eltern – die Vorstellung ist gleichwohl eine Idealisierung, wie man nicht erst seit Freud weiß. Nur mit Liebe und mit Güte haben wir es versucht, und nichts als Undank geerntet: Noch die inhumansten Misshandler wissen solche Elternklage anzustimmen, um den an ihren Schutzbefohlenen verübten Grausamkeiten nachträglich Legitimation zu verleihen.

Historisch neu ist aber zweierlei: Erstens ächten demokratische Gesellschaften das Misshandeln von Kindern inzwischen als Straftat. In Deutschland sind seit dem Jahr 2000 gemäß Paragraph 1631 Absatz 2 „körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen“ von Kindern verboten. Neu ist aber auch die Art und Weise vieler Misshandlungen. Neben der seltener auftretenden, groben physischen Gewalt wie in den jüngsten „Fällen“ prägt klassenübergreifend verschärfte Verdinglichung die Bereiche Kindheit wie Sexualität, wofür die Dynamik der Globalisierung von Kinderpornografie symptomatisch ist. In der Kontamination von Kindheit durch deformierte Erwachsene spiegelt sich das Weltbild der jeweiligen Gesellschaft.

Wo diese vom Warenfetisch ihre Erfüllung erhoffen, wird das Kind, auch das nicht geschlagene, behütete, leicht zum Ding in einem System. Eltern der Moderne sehen im Kind zunehmend einen Fetisch, ein Prestigeobjekt oder eine narzisstische Verlängerung ihres Egos. Da wird der „Kühlschrank“ zum Synonym für die Psychopathologie der gesamten Umgebung des lebenden Kindes. Zeigt sich diese Haltung im Exzess, wie bei den elterlichen Totschlägern, bricht symptomatisch Empörung aus, die ihren Empörungsgenuss kaum verbirgt und doch nicht sehen will. Dessen Quell bilden die eigenen, abgespaltenen Affekte: Misshandler? Das sind stets „die anderen“. Wer frei ist von grausamen Impulsen gegen Kinder, reagiert eher mit Wärme, Heilungs- und Handlungswunsch. Und ohne Empörungsüberschuss.

Um zu erkennen, wie Kinder instrumentalisiert werden, braucht es Bewusstsein für die latenten Codierungen von Kälte, etwa in der Wortwahl beim Sprechen mit Kindern und über Kinder. Unauffällig „normal“ zwischen Playstation und Plüschtierherde spielt das Kind progressiver, aufgeklärter Eltern, von diesen gepriesen für seine „supergute Feinmotorik“, womit sie coole Elternschaft signalisieren wollen – und nicht entdecken, dass sie von ihrem Kind sprechen wie von einem Gerät.

Schulen können Elternliebe nicht zum Pflichtfach machen. Aber einen klaren Fundus an Basiswissen für die eigene Psyche und für das Elterndasein als die essentiellste aller Kompetenzen sollten sie jedem heranwachsenden Citoyen vermitteln. Später ist es – fast immer – zu spät.

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