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Carl Theodor Dreyer: Die Liebe, eine Hexenkunst

Das Berliner Arsenal-Kino würdigt den dänischen Regisseur Carl Theodor Dreyer. Die Retrospektive ergänzt Dreyers Werk vorbildlich durch spätere Filme, die mit ihm korrespondieren.

Meine erste Begegnung mit einem Dreyer-Film muss in den Achtzigern gewesen sein, in einer Vorführung von Godards „Vivre sa vie“, wo sich Anna Karina als Nana in einem Pariser Kino „La Passion de Jeanne d’Arc“ anschaut. Es sind ungefähr drei Minuten – unterbrochen nur durch kurze Gegenschnitte auf Karinas bewegtes Gesicht im Zuschauerraum –, kurz bevor Jeanne auf den Scheiterhaufen geführt wird; Nahaufnahmen von Antonin Artaud als Mönch und dem flehenden Gesicht der Maria Falconetti, das sich mit diesem Film ins kulturelle Gedächtnis Europas eingebrannt hat. Die nach langer Suche von Dreyer gefundene Boulevarddarstellerin, mit anderen Rollen im Kino davor und danach praktisch nicht präsent, verschmolz für immer mit ihrer Figur und deren Leidenspathos. Auch für den dänischen Regisseur sollte sein letzter und aufwendigster Stummfilm zum zentralen Werk werden, das bis heute in der breiten Öffentlichkeit den Rest des Oeuvres überstrahlt und Dreyer als düster-religiösen Esoteriker markiert.

Doch auch „Ordet“, Dreyers vorletzter Film, ist eine grenzüberschreitende filmische Meditation über Glauben, Liebe und Repräsentation, die 1955 in Venedig den Goldenen Löwen erhielt und als religiöses Bekenntnis des Regisseurs angesehen wurde. Dabei bedeutet hier, wie auch in den anderen Filmen Carl Theodor Dreyers, Glaube viel weniger Hingabe an eine äußere Macht als die Ermächtigung, selbst an der Unbill der Welt – und ihrer patriarchalen Einrichtung – zu rütteln.

Um ihn wirklich zu verstehen, müsse man Dreyer von seinem Heiligenpodest auf die Leinwand holen, schrieb der Filmwissenschaftler Tom Milne in einer Broschüre des British Film Institute 1971. Eine umfassende Retrospektive im Berliner Arsenal zeigt nun den ganzen Dreyer, von seinem ersten Film „The President“ (1919) bis in die Sechzigerjahre, und macht die formale Modernität des filmgeschichtsumspannenden Werks deutlich, auch wenn es manchmal – wie im Künstlerdrama „Michael“ – atmosphärisch noch die Salonluft des 19. Jahrhunderts zu atmen scheint.

Als Godards „Vivre sa vie“ 1962 entstand, hatte Dreyer seinen letzten Film noch nicht einmal begonnen. „Gertrud“ wurde 1964 in Paris uraufgeführt und damals von der Kritik ausgebuht, die in dem Film nur prüde Alterssteife erkennen mochte. Nur die Rebellen der Nouvelle Vague erkannten das Zukunftsweisende in Dreyers Stil. Denn „Gertrud“ beruht zwar wie alle Arbeiten Dreyers auf einer literarischen Vorlage. Doch geduldige Arbeit hat der Adaption alle Theatralität und großen Gesten ausgetrieben. Damit hat der Regisseur in seinem späten Meisterwerk die Formen filmischer Reduktion perfektioniert, die er vier Jahrzehnte eingeübt hatte: Handlungsarabesken und Dialogschlenker durch eine Verdichtung des Ausdrucks zu ersetzen, die Darstellung, Kamerabewegung und Dekor gleichermaßen umfasst. So entsteht eine hypnotische Geschlossenheit. „Gertrud“, vom Sujet her ein skandinavisches Emanzipationsdrama mit ungewohnt lichtem Ende, zieht auch inhaltlich ein Resümee: „Ich habe die Liebe gekannt“, sagt Gertrud, auf ihrem Grabstein steht „Amor omnia“, was durchaus auch als Bekenntnis des Regisseur zu lesen sein dürfte, der vier Jahre später verstarb.

Es ist eine Liebe, die unter religiöser Verblendung und autoritärer Herrschaft in Bedrängnis gerät. Inszeniert wird sie von Dreyer sehr sinnlich in scharfem Gegensatz zu den begrenzten Innenräumen im impressionistisch flirrenden Licht freier Natur mit winddurchsäuselten Bäumen und Wassergekräusel. So ähnlich auch in der vielleicht explizitesten Liebesszene in „Day of Wrath“ (1934), einem dunklen Drama in einem Pfarrershaushalt während der barocken Hexenjagd, in dem eine junge Frau ihr Liebesbegehren bis zum Tod kompromisslos durchsetzt. Es mag sein, dass das persönliche Lebensschicksal des 1889 außerehelich von einer Dienstmagd geborenen und adoptierten Regisseurs den Grundstein für die fast manische Beschäftigung mit bedrängten und aufbegehrenden Frauengestalten und Deklassierten gelegt hat. Für ihre Bedeutung im Kino ist das eher marginal.

Vierzehn Filme in 44 Jahren hat Dreyer gedreht, davon nur vier in den letzten 36 Jahren. Doch der quantitativ geringe Output ist nicht fehlender Schaffenskraft geschuldet, sondern der Kompromisslosigkeit des Regisseurs und den Finanzierungsproblemen, die aus mangelndem Kassenklimpern entstanden. Richtig erfolgreich war nur „Master of the House“ 1925, eine prä-feministische „Zähmung der Widerspenstigen“, wo Mutter und Ziehmutter einen Ehemann in die Schranken weisen. Das kam beim französischen Publikum so gut an, dass Dreyer danach Carte Blanche für seine „Jeanne d''Arc“ bekam, bevor er mit dem – heute hochverehrten – „Vampyr“ (1932) jämmerlich unterging. Heute enttäuscht bei „Master of the House“ im Verhältnis zu anderen Filmen Dreyers das zahme Ende, ausgeglichen wird dies allerdings durch die minutiöse Zeichnung weiblicher Haushaltsplackerei und das rare Zweckbündnis der beiden Matronen. Überhaupt, alte Frauen bei Dreyer wären ein Thema für sich: Allein schon, wie sich eine scheinbare Hexe in „The Parson’s Widow“ (1920) in eine wohlwollende Matriarchin verwandelt, dürfte ein filmgeschichtlicher Ausnahmefall sein.

Die Retrospektive ergänzt Dreyers Werk vorbildlich durch spätere Filme, die mit ihm korrespondieren. Neben Godards „Vivre sa vie“ ist hierzu etwa auch Carlos Reygadas zu zählen, der in „Stellet Licht“ das Kinowunder von „Ordet“ unter mexikanischen Mennoniten nachexerziert. Hinzu kommen zwei Filme seines Landsmanns Lars von Trier, der 1988 mit „Medea“ ein nicht realisiertes Drehbuch Dreyers für das dänische Fernsehen vollendet hat. In „Breaking the Waves“ greift er zwölf Jahre später sowohl das Thema religiöser Orthodoxie wie auch den absoluten Liebesbegriff vieler Filme Dreyers auf, der hier allerdings vom emanzipativen Selbstzweck zum Heilmittel degradiert wird.

Infos unter www.arsenal-berlin.de

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