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Lola Klamroth

© pardo

Festival: Die Welt der verlorenen Kinder

Volle Dosis Wirklichkeit: Auf dem 60. Festival von Locarno überzeugen vor allem die harten Dokumentarfilme. Der offizielle Wettbewerb kommt eher bieder daher.

Sie weinen vor Heimweh, schreiben traurige Briefe nach Hause: „Papa, bitte schreib mir mal.“ Oder: „Großmutter, ich denke noch immer an dein Kirschkompott.“ Aber sie spielen auch Fußball und singen im Chor prosowjetische Lieder. Es sind jugendliche Straftäter, die die deutsche Regisseurin Alexandra Westmeier in ihrem außergewöhnlichen Dokumentarfilm „Allein in vier Wänden“ porträtiert hat, in einem geschlossenen Heim weit weg im Ural. Mord, Körperverletzung, Raub: Die Delikte sind schwer, Reue gibt es nicht – jedenfalls nicht im gleichmütigen Ton, in dem die Kinder von ihren Taten erzählen. Konstellationen wie in Andres Veiels Dokudrama „Der Kick“, der Fall Potzlow, nur in Serie. „Diese Kinder müsste man töten“, sagt die Mutter eines der Opfer. Eine andere will von ihrem Sohn nichts mehr wissen. Draußen schneit es auf schmutzige Straßen, und die 12- bis 13-Jährigen genießen erstmals im Leben so etwas wie Normalität: Schule, ausreichend Essen, geregelter Alltag. Auch wenn das Ganze militärisch gedrillt abläuft, mit Morgensport, Toilette, Krawattenzwang und Küchendienst: „Ich möchte hier nicht mehr weg“, sagt einer der Delinquenten. 91 Prozent der entlassenen Kinder, weiß die Statistik, werden wieder im Gefängnis landen.

Kinderkriminalität – eins der großen Themen auf dem 60. Filmfest Locarno, das heute mit der WM-Dokumentation „Winners and Losers“ endet. Man sitzt in der idyllischen Schweiz, draußen lockt der See, und drinnen laufen härteste Filme über die, die von Kind auf keine Chance haben im Leben. Jugendstraftäter in Brasilien, wie in Maria Ramos’ „Juízo“: Laiendarsteller spielen reale Gerichtsprozesse nach, in denen verzweifelt versucht wird, Favela-Kinder der Kriminalität zu entreißen. Und man weiß doch: Sie haben keine Chance in einer Welt, in der schon das Überleben nicht sicher ist. Oder der portugiesische Wettbewerbsbeitrag „O capacete dourado“: Motorradgangs veranstalten nächtliche Mutproben, offene Rebellion in der Schule und zu Hause, und eine Romeo-und-Julia-Geschichte dazwischen. Kinder als Diebe in dem spanischen Beitrag „Ladrones“ und arbeitslose Jugendliche in St. Petersburg, Florida in dem erstaunlichen US-Debüt „Loren Cass“ des 24-jährigen Autodidakten Chris Fuller. Und in „Preußisch Gangstar“ von Bartosz Werner und Irma-Kinga Stelmach sind es Hip-Hopper in Buckow, Brandenburg, die sich gerade ihr Leben versauen: haben ihre erste CD rausgebracht, verkaufen sie stolz an der Kinotür, und als einer nicht kaufen will und einen dummen Spruch loslässt, schlagen sie zu, ohne Ende, bis die Polizei kommt. Und die aufgeklärten Eltern sitzen zu Hause beim Wein – ratlos, was sie mit ihren Kindern machen sollen.

Die volle Dosis Wirklichkeit, die das Festival seinen entspannten Sommergästen mit diesen Filmen beschert, tut gut – zumal im offiziellen Wettbewerb weniger die innovativen Filmentdeckungen zu finden sind als recht biedere Dutzendware. Da sticht Ulrike von Ribbecks Pubertätsdrama „Früher oder später“ trotz vielleicht etwas zu rosarot gemalter Jungmädchenwelt schon hervor: besonders durch seine mutige Hauptdarstellerin, die 14-jährige Lola Klamroth, Tochter des ebenfalls mitspielenden Peter Lohmeyer, die die äußerst unbehagliche Zwischenzeit zwischen Mädchen und Frau, das ungelenke Erwachen in einem zu schnell reifenden Körper ohne Peinlichkeit und mit großem Ernst spürbar macht.

Oder, auf der anderen Seite der Altersskala, ein berührender Michel Piccoli in Hiner Saleems „Sous le toits de Paris“: ein geduldiger Alter, der es stillvergnügt genießt, mit dem besten Freund ins Schwimmbad oder ins Café zu gehen und den jungen Frauen hinterherzublicken. Doch der Freund kehrt in seine nordafrikanische Heimat zurück, die Kaffeehausbekanntschaft muss sich um ihre 93-jährige Mutter kümmern, und plötzlich ist niemand mehr da, und das Alleinsein und die Schwäche und der Tod kommen, in der Mansarde unter den Dächern von Paris. Eine erschütternd eindringliche Studie über Alterseinsamkeit, fast ohne Dialog.

Ähnlich wortkarg geht eine der Festivalentdeckungen vor, der Chilene Matías Bize mit seinem dritten Spielfilm „Lo bueno de llorar“. Eine Nacht in Barcelona, ein Paar, das sich trennt, und noch einmal gemeinsam durch die Straßen geht, auf der Suche nach dem richtigen Wort zum langen Abschied. Eine denkwürdige Eingangsszene, die in ihrer Konsequenz an Antonionis „L’eclisse“ erinnert, zehn Minuten lang lastendes Schweigen, und dann bricht, in fast arienartigen Monologen, auf beiden Seiten durch, was noch einmal gesagt werden musste. Ein minimalistischer Film und ein großer, souveräner Wurf zugleich – nicht umsonst ist der 27-jährige Bize schon mit John Cassavetes verglichen worden.

Draußen Sommer, drinnen Drama

Doch die wirklichen Stärken des sonst recht erinnerungsseligen Jubiläumsjahrgangs von Locarno lagen im Dokumentarischen: mit „Dutti der Riese“, einer vergnügt-skurrilen Würdigung des MigrosGründers Gottlieb Duttweiler, der den Supermarkt in die Schweiz brachte, mit Pauschalreisen, Sprachkursen und Kulturprogrammen für Wohlstand in der Mittelschicht sorgte und den denkwürdigen Satz prägte: „Die Schlacht um die Seele der Hausfrau wird aus dem Portemonnaie gewonnen.“ Oder mit „La reina del condón“ von Silvana Ceschi und Reto Stamm. Der Film erzählt von der Rostockerin Monika Krause, die Anfang der sechziger Jahre aus Liebe nach Kuba emigriert, dort für die staatlichen Aufklärungsprogramme zuständig wird und zur „Königin des Kondoms“ avanciert. Günter Schwaigers Porträt des 84-jährigen, in Spanien lebenden Altnazis Paul Maria Hafner allerdings scheitert. Die Vorstellung, den Alten, und sei es durch die Konfrontation mit einem ehemaligen KZ-Insassen, zur Einsicht oder auch nur zur Anerkennung der Fakten zwingen zu können, versagt angesichts von Hafners unerschütterlicher Selbstgewissheit. Einmal sagt er, Hitler habe die Juden wegen der Bombardierungen der Alliierten nach Auschwitz evakuieren lassen, und dort sei es ihnen vergleichsweise gut gegangen.

Der stärkste Dokumentarfilm jedoch ist der US-Beitrag „One Minute to Nine“. In seinem zweiten Film dokumentiert Tommy Davis fünf Tage im Leben einer Frau, bevor sie ins Gefängnis kommt: Nach jahrelangem Leiden unter Misshandlungen hat sie, gemeinsam mit ihrem ältesten Sohn, ihren Mann erschlagen. Ohne Voyeurismus, gehalten im Stil der Heile-Welt-Homevideos, die der gewalttätige Vater von seiner Familie anfertigte, entsteht ein beklemmendes Bild von Verwahrlosung. Geholfen hat dieser Familie niemand, und die Gefängnisstrafe ersparen kann der Mutter auch niemand, auch die Richter nicht. Trotzdem wird die Tat von allen Beteiligten als Befreiung gesehen. Selten so viel Mut im Elend, selten so viel Hoffnungslosigkeit. „Diese Geschichten passieren überall“, sagt der Regisseur. Nur erfährt man, außer in solchen Filmen, höchst selten davon.

Verglichen damit wirkt Martin Gypkens’ deutscher Beitrag „Nichts als Gespenster“, der auf der Piazza Grande bejubelt wurde, harmlos, angenehm harmlos. Fünf Episoden nach Erzählungen von Judith Hermann, gedreht in fünf Ländern von Island bis Haiti: Unterwegs ist jene Generation der Um-die-Dreißigjährigen, die immer noch nicht wissen, was sie tun wollen in ihrem Leben. Und sich daher selbst vor der grandiosen Kulisse des Grand Canyon nörgelnd das Leben schwermachen wie August Diehl und Maria Simon, sich in Venedig von ihren Eltern terrorisieren lassen wie Fritzi Haberlandt, in Haiti sehnsüchtig einen Hurrikan erwarten, damit endlich einmal etwas passiert, wie Brigitte Hobmeier, oder der besten Freundin den Freund ausspannen wie Karina Plachetka. Kinderprobleme, Wohlstandsprobleme. Viele Filme von Locarno führten weiter: Diese „Gespenster“ treffen auf ihren Reisen immer nur sich selbst.

Christina Tilmann

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