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Fliehendes Pferd

© ddp

Film: Brandstifter bei Biedermanns

"Ein fliehendes Pferd": Rainer Kaufmanns hinreißende Verfilmung von Martin Walsers Novelle.

Ungemein erfolgreich sind sie, bis zum Überdruss bekannt aus Film und Fernsehen, aber etwas Überraschendes, gar Großartiges erwartet der feinere Otto Kulturverbraucher von ihnen nicht mehr – gerade wegen dieser heftig abgerockten Bildschirmleinwandpräsenz. Zum Beispiel Ulrich Noethen: guter Schauspieler, keine Frage, aber ist der nicht als Herr Taschenbier aus den „Sams“- und „Bibi Blocksberg“-Hits nicht endgültig in die Abteilung Kinderfilm abgewandert? Ulrich Tukur: kann alles spielen, vom Stasi-Typen bis zum Widerstandskämpfer, aber nervt der stets gutgelaunte Hans Dampf in allen Gassen, der auch noch eine Musikerkarriere verfolgt, längst nicht viel mehr, als er beglückt? Und erst das Duo Katja Riemann und Rainer Kaufmann: Seit „Stadtgespräch“ (1995) stehen sie für die fernsehformatierte Beziehungsplotte mit im Kino schwindelerrregenden Besucherzahlen, aber während der eine sich mit Auftragswerken nur mehr im öffentlich-rechtlichen Erbauungsprogramm versendet, macht letztere vor allem als zickige Zweitliga-Diva von sich reden.

Bestes Bashing-Material also – wenn nun auch noch Martin Walser dazukommt, ist das Quintett komplett. Auch er so ein Medien-Großschriftsteller, dessen 80. Geburtstag im März als gesamtdeutsches Weihespiel begangen wurde, so ein nichtaufhörenwollender Vielschreiber, der – sofern die literarische Qualität zu wünschen übrig lässt – mit Politskandälchen und sogenannten Feuilleton-Debatten von sich reden macht: Der hat jetzt gerade noch gefehlt. Wenn nun die Obengenannten die Bestseller-Novelle „Ein fliehendes Pferd“ des Daruntergenannten verfilmen, dessen paar bisherige TV-Literaturtransplantationen allesamt nicht gerade in die Mediengeschichte eingegangen sind, allen voran die „Fliehendes Pferd“-Version von Peter Beauvais (1983), die Walser selber als Katastrophe in Erinnerung hat – dann sollte solches Vorhaben doch geradezu spektakulär daneben gehen.

Und nun das.

Eine Literaturverfilmung, die – fulminantes Drehbuch: Ralf Hertwig und Kathrin Richter – ihre knapp 30 Jahre alte, nur sachte angestaubte Vorlage liebt, aber sogleich beherzt plündert, entkernt und mit ein paar strategisch hinzuerfundenen strukturellen und dramaturgischen Elementen klug in die Gegenwart bringt. Drei Schauspieler, die traumsicher auf die Rollen ihres Lebens zugesteuert sind und sich nun hier glücklich vereinen – ergänzt durch die 27-jährige Petra Schmidt-Schaller, die sich als sanfte fille fatale wunderbar in das Ensemble der verknorzten Mittelspätvierziger fügt. Eine Kamera (Klaus Eichhammer), die ihre Figuren ebenso forschend ergründet wie die trügerisch heitere Bodensee-Landschaft; ja, in Augenblicken tragikomischer Größe nistet sie fast in den zermatteten Faltengesichtergebirgen, während sie bei lächerlichsten Entgleisungen die diskrete Totale bevorzugt. Und eine unverschämt federleichte Schubiduu-Dabidaa-Filmmusik (Komposition und Arrangement: Annette Focks), die als feinsinnig verjuxtes Ohrenschmalz die Peinsamkeiten der Protagonisten köstlich kontrapunktiert. Kurzum: ein kohärentes Kunstwerk. Ein tadelloser Film ist dieses „Fliehende Pferd“, das mit Vergnügen allerlei Disziplinen des nächsten Deutschen Filmpreises entgegengaloppieren dürfte.

Helmut Halm ist ein typischer Walser- Antiheld, der auch Horn, Dorn oder Zürn heißen könnte: lebensmüde, aber zum Selbstmord zu fies – ein von seiner jungen Kundschaft verspotteter Gymnasiallehrer, der die Restjahre bis zur Frührente runterreißt. In seiner Freizeit demonstrativ vergraben in Kierkegaard und Nietzsche, intellektuell wohl noch zu schwachbrüstigen Sottisen fähig, dafür sexuell erloschen, verbringt er seit zwölf Jahren die Sommerferien mit seiner Frau Sabine in einem vergitterten Bungalow am Bodensee. Bei Walser sind die beiden nicht viel mehr als zwei strahlungsarme Fressfässer, die dem Endlager ihrer mählich absehbaren Versargung entgegendämmern – zwei Menschen, die einander unmerklich unaufhaltsam in die Tiefe ziehen.

Der Film holt diese Lebendigbegrabenen behutsam ans Licht; eigentlich proper, diese Sabine (Katja Riemann), wenn sie nicht so stereotyp aus dem Bodensee-Strandbadwasser „Wenn man erst mal drin ist, ist es gar nicht mehr kalt!“ zu ihrem Helmut (Ulrich Noethen) am Ufer rufen wurde, dem Misanthropen, der ihr Gekräh schon vorauseilend nachäfft. Und auch der Helmut könnte einen klugen Gesellschaftsmenschen abgeben, wenn er nicht so unverstellt angeekelt an der Welt „vorbeischauen“ (Walsers Chiffre) würde. So fängt das an: im Strandbad, in einer furiosen Szene aus Blicken, Perspektivwechseln, ersten Fokussierungen der Abwehr und präventiv weggewedelten Lust auf hübsche, halbnackte Körper. Und plötzlich springt Ulrich Tukur – freie Brust mit hellem Blazer drüber – vom Mäuerchen, nimmt zum Spaß die junge Freundin huckepack, und Klaus und Hel, das Herausfordererpaar, sind für den Film neugeboren.

Es sind Brandstifter der Vitalität, die da bei Biedermanns einbrechen und für ein paar Sommerferientage die Regie übernehmen: Klaus, ein zotenseliger Schul- und Studienfreund, an den Helmut sich partout nicht erinnern will, und sein unbefangenes Liebchen: Der Film tut gut daran, die verwittert-verbitterte junge Zweitehefrau aus der Walser-Vorlage in einen süß unverbrauchten Männertraum zu verwandeln. Der Rest ist Physik: Natürlich reagiert Helmut auf Hel, so wie Sabine auf Klaus reagiert, baldige Missverständnisse nicht ausgeschlossen. Könnte doch sein, dass die Eindringlinge Klaus und Hel nichts weiter als Katalysatoren sind, Kunstfiguren, die nur für die Dauer anderweitiger Ausbruchssehnsüchte lebendig werden.

Wie Tukur seinem hyperventilierenden, berufsjugendlichen Lackaffen Zucker gibt; wie anrührend hilflos das überfallene Ehepaar sich aus seiner sexuellen und sonstigen Verwahrlosung herauszumanövrieren sucht; wie schließlich Petra Schmidt-Schaller als Hel lässig folgenlos Grenzen überschreitet, um sie gleich darauf umso lässiger folgenschwer neu zu setzen: Das alles ist atemberaubend präzise, mal erschütternd, mal irrwitzig komisch und keine Sekunde langweilig inszeniert. Alkohol und Pilates, Joints und Jogging sind die Ingredienzen jenes Fitness-Hedonismus, mit dem sich die Mittvierziger heute gegen ihren Lebensherbst zu wappnen suchen. Und wenn der ebenso wasser- wie menschenscheue Helmut streng verkündet: „Ich bin nicht pessimistisch, ich bin Melancholiker“, dann dürften sich darin, einen Funken Restselbstironie vorausgesetzt, Myriaden deutscher Schattenmänner in schallendem Gelächter wiedererkennen.

Martin Walser, der die zweijährige Drehbucharbeit fürsoglich begleitete, tut längst sein medienwirksam Gutes, indem er die Verfilmung als Glücksfall bezeichnet. Er hat absolut recht. Denn der Film lässt seine Vorlage souverän hinter sich. Er birst vor schlüssigen Einfällen, die bei Walser nicht zu finden sind; er akzentuiert und aktualisiert die im Buch deutliche sexuelle Drastik, ohne sie plump auszubeuten; vor allem aber liebt er seine Figuren, während Walser, der von der mäßig ergiebigen Perspektive des Helmut kaum lassen mag, für sie bestenfalls Mitleid empfindet. Im Film ist es eine lächelnde Liebe, die Erkennis befördert – und so darf die Identifikationslust des Zuschauers wunderbar frei und erhellend flottieren.

Schöner deutscher Herbst: Mit Christian Petzolds „Yella“ und nun Rainer Kaufmanns Walser-Adaption sind derzeit zwei Bravourstücke auf der Leinwand zu besichtigen, die sogar aufeinander zu antworten scheinen: Wo Petzold eine Schattenwelt voller Gespenster inszeniert, in Heiterkeit eher unfallweise eindringt, bringt Kaufmann das Elend eines süddeutschen Sommers zum Tanzen. Auch er spielt, freilich ohne auf dem fliehenden Pferd herumzureiten, mit Gespenstern. Er tut es leichthin. Irgendwann winken sie, unsere Spiegelbilder, uns zu. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann schwimmen sie heute noch.

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