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Jan Schulz-Ojala, Filmkritiker des Tagesspiegels, berichtet in seinem Festival-Tagebuch aus Cannes.

© Mike Wolff

Filmfestival Cannes: Iñarritu, Kitano und Godard: Zwischen episch, grausam und belanglos

jan@cannes, das Festival-Tagebuch: Geld macht kaputt, noch kaputter als die Liebe – wie die neuen Filme von Alejandro Gonzalez Iñarritu und Takeshi Kitano zeigen.

Der Mexikaner Alejandro Gonzalez Iñarritu ist bekannt dafür, dass er es gerne ein bisschen übertreibt. Wenn er einen Film dreht, dann müssen es – wie in "Amores Perros" (2000) oder "Babel" (2006) – gleich drei in einem sein. Oder wenn er, wie vor sieben Jahren, einen Film "21 Gramm" nennt, dann will er mit dem Titel gleich das ultimative spezifische Gewicht der Seele bezeichnet wissen. Und auch in Sachen Melodram ist er am liebsten grundsätzlich ganz vorn: Kein Gefühl oder Gefühlchen des Zuschauers oder der Zuschauerin, das von Gonzalez Iñarritu nicht auf das Sorgfältigste bedient würde.

In "Biutiful", seinem heftig erwarteten Wettbewerbsbeitrag in Cannes, sind alle diese pittoresken Elemente der Exaltiertheit enthalten: Lust an ausufernder Epik – der Film dauert 140 Minuten - und der Drang zum Drama, und das möglichst existenziell. Dann kommt es allerdings ziemlich anders. "Biutiful" konzentriert sich auf eine zentrale Geschichte, deren nicht übertrieben zahlreichen Nebenarme stets erkenntlich sind, auf einen Schauplatz, die Riesenstadt Barcelona, die man so im Kino noch nie gesehen hat – und auf einen grandiosen Hauptdarsteller, der in nahezu jeder Szene zu sehen ist und Auge und Herz nicht ermüdet: Javier Bardem.

Grandioser Hauptdarsteller: Javier Bardem ist in jeder Szene präsent

Uxbal ist am Ende, von Anfang an. Viel zu spät beim Arzt, setzt er sich, weil die Sprechstundenhilfe die Vene nicht findet, die Spritze zum Blutbild selbst. Bald hat er das Ergebnis: Prostatakrebs, und nur noch ein paar Monate zu leben. Andererseits kommt der Tod gerade verdammt ungünstig, wenn einer wie Uxbal noch jede Menge Sachen zu erledigen hat. Da ist sein zwielichtiger Job, mit dem er, gegen Schmiergeld und Provisionen, zwischen illegalen Ausländern und der Polizei vermittelt, und da ist vor allem seine kaputteste Familie der Welt: Die beiden Kinder, die neunjährige Ana und ihr kleiner Bruder Mateo, leben in seinem Loch von Bude, wo die Nachtfalter sich an der nässenden Decke vermehren. Es sei denn, ihre Mutter Maramba (Maricel Alvarez) taucht plötzlich auf, wenn sie sich mal wieder clean glaubt und die Nase voll hat von gewissen Massagejobs nachts um drei. Dann bettelt sie erfolglos um die alte Liebe namens Uxbal – und nimmt ersatzweise die Kinder mit, bis zur nächsten Katastrophe.

Es ist das ganz normale prekäre Leben in der ganz normalen Schattenwirtschaft, dem Rodrigo Prieto mit der Handkamera hinterherjagt und auf die Pelle rückt. Natürlich ist es für einen Spielfilm bloß hingestellt, ausgestellt, und fühlt sich doch in keiner Sekunde so an. Weil es einfach vorantreibt, Tag für Tag dem Tod entgegen: Uxbal sorgt dafür, dass die Chinesen in ihren Sweatshops und die Schwarzen in ihren Billigstjobs von der Polizei unbehelligt bleiben, und dafür verschiebt er schmuddlige Euro-Bündel von hier nach dort. Und seine Kinder reißt er wieder an sich, wenn Maramba sie schlägt und auf ihre Weise verwahrlosen lässt. Ja, es ist die Hölle auf Erden. Aber auch die Hölle, wenn sie eine Jeden-Tag-Hölle ist, wird normal.

Gut in Form: Alejandro Gonzalez Iñarritu (l.) mit seinem Hauptdarsteller Javier Bardem.
Gut in Form: Alejandro Gonzalez Iñarritu (l.) mit seinem Hauptdarsteller Javier Bardem.

© AFP

"Outrage" liefert das unbarmherzigste Porträt einer kriminellen Gesellschaft

Mit einer finsteren Restkraft geht dieser Uxbal durch die Welt, und zugleich bleibt er in seinem Todmüdesein verletzlich, entwickelt ein Gefühl für Lebensschuld und versucht, während neue sich türmt, einen Teil zumindest der alten abzutragen. Javier Bardem gibt dem Film Trauer und Wärme, Abschied und Hoffnung – und Maribel Alvarez als die haltlose Mutter seine Kinder ist, als dramaturgischer Kontrapunkt, von geradezu herzzerreißendem Selbstzerstörungsdrang. Sie macht im seelischen Totalabsturz dort weiter, wo Mary in Mike Leighs "Another Year", so anrührend verkörpert durch Lesley Manville, noch eben aufgefangen wird. Was für fantastische Bewerberinnen schon jetzt um die Schauspieler-Palmen!

Geld regiert fast alles in „Biutiful“, wenn da nicht die Liebe noch wäre. In Takeshi Kitanos "Outrage" regieren nur das Geld und unglaublich grausame Yakuza-Riten. In der Reihe seiner japanischen Mafia-Thriller, in denen Kitano selber immer den härtesten Burschen gibt, liefert "Outrage" das unbarmherzigste Porträt einer kriminellen Gesellschaft, die sich in nicht endenden Clan-Kämpfen selbst vernichtet. Das mildeste Urteil: die Selbstverstümmelung durch Abschneiden des letzten Kleinfingerglieds. Das Schlimmste: Kopfabreißen mit dem extern fixierten Seil aus einem fahrenden Wagen – wenn man nicht gleich von einem halben Dutzend Pumpguns durchlöchert wird.

"Outrage" ist schrecklich, und schrecklich konsequent. Kitano verzichtet nahezu auf eine Geschichte und hält sich nur an Riten und Struktur. Doch anders als bei Johnnie To, der seine seriellen Patronen-Ballette in Zeitlupe feiert, macht hier nichts Spaß. Es geht nur um Macht und Geld und mehr Macht und mehr Geld, herbeizuführen durch Mord und Mord und Mord. Nicht einmal im Knast ist ein gedungener Killer vor Rache sicher. Zwischen all den Faustschlägen, Fußtritten und Schießereien funkelt in diesem – kinematografisch brillanten – Exerzitium nur ein Sinn auf: die Fundamental-Anklage gegen Kitanos Heimat Japan, gegen die quer durch Polizei, Justiz und Yakuza systemische Vernetzung aller von Kriminalität lebender Elemente.

Knallhart. In Takeshi Kitanos "Outrage" regieren nur das Geld und unglaublich grausame Yakuza-Riten.
Knallhart. In Takeshi Kitanos "Outrage" regieren nur das Geld und unglaublich grausame Yakuza-Riten.

© AFP

Godards "Film Socialisme": Alles tönt äußerst bedeutsam und bedeutet nahezu nichts

Bei derlei finsteren Diagnosen über unsere dem Untergang geweihte Geldwirtschaft, ein Leitmotiv in Cannes spätestens seit "Wall Street 2", tönt der Titel "Film Socialisme" erst einmal verheißungsvoll. Doch der Beitrag des nahezu 80-jährigen Jean-Luc Godard ist nur ein weiterer seiner zuletzt eher gefürchteten Essayfilme – und zudem ein Etikettenschwindel. Zwischen "Logos, Teknos, Textos, Videos" interessiert sich der Altmeister in allerlei Bild- und Textschnipseln kaum für den Sozialismus, sondern für die Kultur seit den alten Ägyptern - und findet, abgesehen von einer gewissen Ablehnung des heutigen Europa, zu keiner stringenten These.

Vom genüsslichen Abfilmen einer Mittelmeerkreuzfahrt per DV-Kamera, bei der die kapitalistischen Vergnügungen Modenschau, Disco und Pool dem Zuschauer nicht gar so verwerflich erscheinen mögen, geht es über die enzyklopädische Besichtigung einer mittelfranzösischen Tankstelle, deren Personal bei Geschirrspülen Balzac rezitiert, in die Zielgerade willkürlicher Montagen aus vorgefundenem Material. Alles tönt äußerst bedeutsam und bedeutet nahezu nichts. Der Applaus für Godard in Cannes? Herzlich.

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