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Filmfestival: In großer Nähe, so fern

Das 49. Filmfestival von Thessaloniki punktet mit Beiträgen aus der Türkei. Gerade die Filme aus dem ewigen Nachbar- und Feindschaftsland der Griechen, wirken auf dem Filmfestival wie zu Hause.

Illusionen machen sie sich keine: "Ich fürchte, man hat uns vergessen", sagt einer der alten Männer. Sie stehen auf verlorenem Posten, buchstäblich. Auf überwuchertem Gelände, überall bröckelt der Stein, früher trieb man hier die Schafherden durch, heute die Schulklassen. Es sind Geländewächter an antiken Stätten Griechenlands, auf Delos oder in Vergina, die der Dokumentarfilm "Guardians of Time" begleitet. Einfache Männer, einst Hirten oder Tischler, hinken sie am Stock durchs Gelände. Längst sind ihnen die Steine, die sie hüten, zum Lebensinhalt geworden - Geschichte und Erinnerung. Wenn sie erzählen, wird das wahr.

Nur wenige Kilometer von Vergina, mitten ins quirlige Thessaloniki. Beim dortigen Filmfestival, dem 49., spielt die Erinnerung nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn Hommagen den großen Toten des Jahres gelten, dem Afrikaner Ousmane Sembène, dem Ägypter Youssef Chahine oder auch den noch lebenden Legenden wie Michalis Cacoyannis oder Manos Zakharias, die ihre wache Erinnerung an die politischen Kämpfe des 20. Jahrhunderts mitbringen. Urgesteine der griechischen Filmgeschichte, sehr lebendig dazu. Lebendiger als vieles, was im aktuellen Programm läuft, und die immer gleichen Ingredienzen - schöne Menschen, schöne Autos, schöne Wohnungen und reichlich Sex - verrührt.

Klassisches Dilemma in Thessaloniki: Es ist ein Festival des griechischen Films, doch das internationale Publikum begeistert sich nicht recht dafür, auch wenn Filme wie "Correction", "Little Greek Godfather" und "Metamorphosis" im vergangenen Jahr ihren Weg gemacht haben, wie Festivalleiterin Despina Mouzaki eifrig betont. Aufmerksamer beobachtet wird hier eher der Balkanschwerpunkt. Und der Balkan liegt in dieser Stadt, in der sich griechisch-orthodoxe Kirchen, Moscheen und antike Tempelruinen friedlich verbinden, unmittelbar vor der Haustür.

Nun ist allerdings auch der Balkan filmisch kein weißer Fleck mehr. Festivals wie Cottbus oder Wiesbaden haben längst Grundlagenarbeit geleistet, und auch auf der Berlinale ist Osteuropäisches inzwischen wieder regelmäßig im Programm. Zudem triumphierte das rumänische Kino im vergangenen Jahr mit Cristian Mungius "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" in Cannes. Und doch: Gerade die Filme vom Länderschwerpunkt Türkei, dem ewigen Nachbar- und Feindschaftsland der Griechen, wirken in Thessaloniki heute wie zu Hause bei Freunden.

So alltäglich sind die Themen selten

Auch die Themen sind uns nah: der Zerfall der Familie in dem überragenden Beitrag "Pandora's Box" von Jurymitglied Yesim Ustaoglu. Drei ziemlich erfolgreiche, ziemlich egoistische Geschwister sehen sich mit der zunehmenden Demenz ihrer Mutter konfrontiert und holen die alte Dame aus ihrem Haus auf dem Land ins moderne Istanbul. Da sitzt die Alte nun verloren am Fenster oder irrt durch die Stadt, und mehr als nur pflichtgemäß widerwillig ist die Fürsorge der Kinder nie. Bis der Enkel auftaucht, mit der Großmutter einen Ausflug per Schiff unternimmt und sie schließlich aus dem zwischenzeitlichen Pflegeabschiebeheim entführt und wieder zurück aufs Land bringt. Da begegnen sich zwei auf Augenhöhe, ohne Erinnerung, aber auch ohne Berührungsangst, eine Utopie, kurz gelebt in malerischer Berglandschaft. Am Ende macht sich die alte Dame noch einmal auf eine große Wanderung. Lange hat man keinen zärtlich-traurigeren Schluss gesehen.

So alltäglich sind die Themen selten, wenn in vielen Filmen fast formatsprengend immer wieder die krisenzerrissene Welt gespiegelt wird, von Bosnien bis in den Irak, von Indien bis Äthiopien. Trauma-Verarbeitungsfilme, die versuchen, den Schrecken in Bilder zu fassen - und die Erinnerung in Worte. So porträtiert Aida Begics "Schnee" eine Gruppe von Frauen, die in einem bosnischen Bergdorf zurückgeblieben sind, nachdem Männer und Söhne von Serben ermordet wurden. Mühsam schlagen sie sich mit Marmeladenproduktion durch, üben den rücksichtsvollen Umgang miteinander, testen ganz vorsichtig die Sprachfähigkeit der Erinnerung - und in einer Sturmnacht bricht alles wieder auf. Ganz ähnlich der indische Wettbewerbsbeitrag "Firaaq", der das Massaker an 3000 Muslimen im indischen Gujarat behandelt - einen Monat später ist zwischen Hindus und Muslimen nur ein sehr instabiles Gleichgewicht erlangt, Hass und Feind seligkeit können jeden Moment wieder ausbrechen, beide Seiten unterdrücken mühsam die Ressentiments.

Schmerzliche Erinnerung an Vertreibung und Verlust: Das heute so aktuelle Thema hat in Thessaloniki spürbar Tradition, vor allem in den Filmen von Theo Angelopoulos. Sein neuer Film "Dust of Time", ursprünglich für das Festival in Venedig gedacht, wird morgen Abend das Festival beschließen. Der Vorgängerfilm, "Die Erde weint" von 2004, machte Thessaloniki unsterblich, den Blick der Ankommenden auf die Stadt, vom Meer aus. Das Dorf, aus dem die Protagonisten vor einer Überschwemmung flüchten, ließ Angelopoulos auf dem Boden eines im Winter ausgetrockneten Sees erbauen und dann von den Frühjahrsfluten überschwemmen. Die Dokumentation "New Odessa" schildert das höchst aufwendige Unternehmen. Der Stolz der Film architekten auf "ihr" Dorf hat etwas Rührendes, ihre Trauer um den Verlust ist echt. Archäologie der Erinnerung: Auch Filmsets können lebendig werden.

Christina Tilmann

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