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Blindness

© promo

Filmfestspiele Cannes: Mit der Seele sehen

Weißer Himmel, milchiges Meer: Die 61. Filmfestspiele in Cannes eröffnen mit "Blindness" von Fernando Meirelles. Eine verwegene Notoperation. Selbst der Regisseur zweifelt an dieser Entscheidung.

Verblüffend grau, manchmal in teigiges Weiß übergehend, ist der Himmel über Cannes - und das passt so gar nicht zu einem Festival, dessen Fans gern feine Fendi-Sonnenbrillen tragen, um für den ganz besonderen Frühling gewappnet zu sein. Das Städtchen an der Côte d'Azur, mit 60 000 Bewohnern eher beschaulich, hat zur akuten Verdreifachung der Einwohnerzahl wieder sein Festgewand übergestreift - mit frisch gepflanzten Blumen auf der Croisette, mit Tagesschaulustigen in Divisionsstärke, sogar mit Lächel-Attacken der gefürchteten Kontrollettis am Festivalbunker. Nur die Sonne fehlt, um das Showglück vollkommen zu machen.

Was zu dieser 61. Ausgabe des weltwichtigsten Filmfestivals allerdings auch fehlt: ein Eröffnungsfilm, der die glitzernde Seite dieser Tage und Nächte ästhetisch ergänzt - als Hors d'Oeuvre zu Champagner, Kaviar und abendlich befrackten Kavaliersallüren. So gesehen, könnte die ungewöhnlich kurzfristige Entscheidung, das Fest mit Fernando Meirelles' finsterer Endzeitparabel "Blindness" zu eröffnen, als forsches Kontrastprogramm zur Feierlaune durchgehen. Sogar meteorologisch: Schließlich scheint in dem Zweistundenfilm nach dem Roman "Die Stadt der Blinden" (1995) des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago nie die Sonne. Doch ach, auch das künstlerische Ergebnis dieses Starts stimmt gelinde gesagt: kühl.

Krankes Weiß regiert in der Welt von "Blindness" - jenes "milchige Meer" aus Saramagos Roman, das die rätselhaft in einer anonym globalisierten Metropole Erblindenden sehen. Und mit Weißblenden und entsättigten Farben stattet Fernando Meirelles das von der Seuche heimgesuchte Universum seines Filmes aus. Eine Handvoll Figuren sind es erst, die bald in Quarantäne und furchtbare Seelen- und Körperpein geschickt werden, und schließlich ist es eine ganze Stadt. Entsetzen über den Verlust des Gesichtssinns, Panik in der Isolation, Hunger, Dreck, Vergewaltigung, Plünderung und Mord markieren den Leidensweg dieser Kronzeugen einer diffus philosophisch-psychologisch-politisch anmutenden Parabel: ein Autofahrer, sein Helfer (der ihm das Auto stiehlt, bevor er selbst erblindet), eine junge Frau, ein Kind und ein Augenarzt. Und dessen Frau, die der Ansteckung entrinnt und aus ehelicher Liebe den Weg in die Quarantäne mit antritt.

Schon der seine Reflexionen und Dialoge in atemlosen Langsätzen einschließende 400-Seiten-Roman kommt als schmale, wenn auch tröstliche Moralpredigt daher. Der Mensch mag zwar des Menschen Wolf sein, aber damit schaufelt er sich nur sein eigenes Grab, verkündet der einst überzeugte Kommunist Saramago; allein Großmut, Selbstlosigkeit, Solidarität lassen ihn auch die schlimmsten Hürden meistern. Ein Thesenstück mithin, ein donnernder Essay eher denn ein Roman. Dass die Frau des Arztes (gespielt von Julianne Moore) sich als Blinde ausgibt und folglich als einzige den Horror sehen muss, verhilft dem Buch wie dem ihm treu folgenden Film zu seinem einzigen fruchtbaren Twist. Denn zugleich erweist sich ihre Sehfähigkeit als die einzige Aussicht auf Rettung.

Fernando Meirelles aber, der vor sechs Jahren mit "City of God", einer wuchtigen Saga aus den Favelas von Rio, eine faszinierende Gewalt- und Weltvision vorlegte, macht aus diesem Material geradezu erschütternd wenig. Brav bebildert er die Stationen seiner Vorlage, führt die Gruppe erst behäbig zusammen und ins Quarantäne-Inferno einer von Soldaten umstellten Anstalt mit Dutzenden von Erblindeten. Dort regiert alsbald eine pistolenbewehrte Blinden-Gang, händigt Essen erst nur gegen Wertsachen aus und dann gegen Sex - ein Terror, der die Revolte heraufbeschwört.

Schon vor zehn Jahren wollte er das Buch verfilmen, sagte Meirelles gestern, José Saramago aber habe ihm die Rechte mit dem Hinweis verweigert: "Das Kino zerstört die Vorstellungskraft." Arg apodiktisch tönt das - denn was wäre die menschliche Fantasie auch ohne ihre Kinobilder, die als Individualmetaphern oft ebenso taugen wie als Chiffren eines erweiterten Existenzbegriffs? Für den Film "Blindness" aber, der mit dem - verlorenen - Gesichtssinn den physischen Kern der Kinematografie selbst verhandelt, stimmt der Befund plötzlich doch. Meirelles belegt ihn auf fast tragische Weise.

Denn was sich als Protokoll kollektiver Hilflosigkeit phasenweise packend liest, wirkt auf der Leinwand hilflos. Schwerstes Handicap: Blinde bauen keine Blickbeziehungen auf - und so tapern Mark Ruffalo und Don McKellar, Alice Braga, Danny Glover und Gael García Bernal (als Macho-Bösewicht) wie Freiwillige durch eine überlange Katastrophenschutzübung. Julianne Moore hat als einziges Pfand zwar ihre durch die Augen gehende - und bindende - Seelenkraft, haucht aber dem Figurantenkreis kaum Leben ein.

Im Bemühen, jene emotionale Leerstelle zu übertünchen, beschwört "Blindness" zwangsläufig weitere Mängel herauf. Die Musik tut bis zum Tinnitus-Terror alles, um auf ihrer Sinnebene den Seelenhorror der Figuren auszumalen - und setzt in den Momenten der Harmonie auf gröbsten Spieluhr-Kitsch. Und die spät eingreifende Erzählerstimme ist irgendwann nur mehr als Kapitulation der mise en scène zu verstehen, bis zum - erschöpften - Happyend, zu dem auch ein niedlich zottiger Terrier sein Teil besteuert.

Das Tierchen steht schon so bei Saramago - aber was hilft's? Freiheiten hätte der Regisseur sich nehmen sollen, wie etwa Julian Schnabel, der unlängst in "Schmetterling und Taucherglocke" das ungleich schmalere Sujet eines in seinen Körper eingezwängten Gelähmten meisterlich entfaltete. Oder er hätte das Thriller-Potential des Buchs mit aller Gewalt und, ja, auch aller Altherrenlust des Romanciers am Sexuellen ausspielen müssen. Dann aber wäre er beim B-Picture gelandet und nicht auf dem Präsentierteller aller Präsentierteller des anspruchsvollen Films: Cannes, die allererste.

Fernando Meirelles ist, und das rührt wieder, ein ehrlicher Mann. Nach der wenig beklatschten Premiere seines ehrgeizigen Werks zweifelte er selber auf der Pressekonferenz ausdrücklich an dessen Eignung "zur Eröffnung eines Festivals". Auch eine Art, einen Katastrophenfilm perfekt zu machen.

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