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Filmkritik: Sturz in die Gosse

Eminent politisch, aber auch realitätsfern: "Min Dît – Die Kinder von Diyarbakir" hat bereits auf dem Filmfest Istanbul Preise eingeheimst.

Tanz, Gesang, Trommeln, Frauen mit bunten Kopftüchern und Männer in weiten Hosen – kaum ein kurdischer Filmemacher verzichtet derzeit auf die folkloristische Inszenierung einer Hochzeit. Schließlich sind die Bilder archaischer Rituale in karger Landschaft und freundlicher Menschen, die ihre Sorgen während der Feier vergessen, ein Augenschmaus für westeuropäische Kinogänger.

Auch Mîraz Bêzar, Berliner dffb-Absolvent kurdischer Abstammung, verwendet in seinem Spielfilmdebüt „Min Dît – Die Kinder von Diyarbakir“ solches Gefühlsmaterial. Allerdings konterkariert er es bald durch Szenen von Gewalt, die vor dem Hintergrund des friedlichen Fests umso brachialer wirkt. Der Zuschauer aber ist bereits gewarnt, dass die glückliche Familie, die zur Hochzeit aufbricht, nicht heil zurückkommen wird. Und die zehnjährige Gülistan, die eben noch das Kopftuch im Wind flattern ließ, verfällt in Schockstarre, als ihr Vater von einem Geheimpolizisten erschossen wird.

Nach dem Mord taucht die Mutter der Kinder unter – die Familie hatte einem PKK-Kämpfer aus den Bergen Unterschlupf geboten –, und Gülistan und ihr jüngerer Bruder Firat bleiben mit ihrer noch nicht einjährigen, kranken Schwester bei einer Tante in Diyarbakir, deren Einwohner mehrheitlich Kurden sind. Auch die Tante aber verschwindet. Von nun an auf sich selbst gestellt, versucht Gülistan, Geld für Essen und Medikamente für die Geschwister aufzutreiben, doch das Baby stirbt. Vertrieben vom Vermieter, schlagen sich Gülistan und Firat auf der Straße durch, Unterstützung finden sie bei anderen Straßenkindern, von denen sie das Überleben durch Betteln, Stehlen und den Handel mit Billigartikeln lernen. Am Lagerfeuer singen die Kinder von der Heimat Kurdistan – bis Geheimpolizisten die Leichen von Gefolterten in ihrer Sichtweite abladen.

„Min Dît“ ist eminent politisch – und holte soeben auf dem Filmfest Istanbul wohl vor allem für sein Engagement Preise für den Regisseur, die Hauptdarstellerin und die Musik. Der Gedanke liegt schon beim Blick auf die Jury nahe: Schließlich ist deren Präsidentin, die Regisseurin Yeeim Ustaozlu, für ihre Thesenfilme bekannt. Zudem zeugt die Preisvergabe von einem gewandelten Klima: Der Film ist bereits in der Türkei angelaufen – vor zehn Jahren hätte ein in kurdischer Sprache gedrehter Film in der Türkei außerhalb von Festivals kaum eine Aufführungschance gehabt.

Unerfreulich an „Min Dît“ allerdings ist neben dem simplen Gut-Böse-Schema seine Realitätsferne. Gerade die riesigen kurdischen Familien halten zusammen. Kinder hungern nicht und werden erst recht nicht allein gelassen. Regisseur Mîraz Bêzar sollte das besser wissen, auch wenn er in Ankara geboren wurde und seit seinem 9. Lebensjahr in Deutschland lebt. Es ist an der Zeit, dass kurdische Regisseure Filme machen, die kinematografisch bemerkenswert sind. Politisch mögen sie gern sein, aber bitte nicht nationalistisch.

Central, Filmkunst 66, fsk am Oranienplatz und Karli (alle OmU)

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