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Sweeney Todd

© Promo

Kino: Rache ist sauer

Tim Burtons Schauer-Musical "Sweeney Todd" erinnert an den expressionistischen Stummfilm.

Wie ein Geisterschiff taucht die Brigg aus dem Nebel auf und nähert sich den Docks von London. An Deck hält erwartungsfroh ein junger Matrose Ausschau. Die Stadt, von der er vermutlich schon viel gehört hat, will erobert sein. Aber der dichte Nebel verzerrt die Silhouetten der Hafengebäude und schluckt das Licht der spärlichen Laternen. Ein unbeschwerter Landgang wird das nicht.

Und schon schiebt sich eine Gestalt ins Bild, die jegliche positive Erwartung zunichte macht: aschfahl das Gesicht, dunkel die Augen unterm wirren Haarschopf, den eine weiße Strähne durchzieht. „There’s no place like London“, bestätigt dieser Mann – und er tut es singend. Doch es ist ein Hassgesang, vorgetragen voller Bitterkeit über die eigene Vergangenheit in einer überseeischen Strafkolonie und über die Stadt selbst: Hier begann alles Unglück, das ihn womöglich vor der Zeit ergrauen ließ, hierhin kehrt er nun, ein lebender Toter, zurück.

Mit dieser grandiosen Eröffnungssequenz entwirft Tim Burton einen Charles Dickens’schen Mikrokosmos, in dem arme, geschundene Kreaturen durch enge Straßen schlurfen, besudelt vom Unrat, den die Kutschen der Wohlhabenden im Vorbeifahren aus der Gosse hochschleudern. Symbolisch für die Ernährungsgewohnheiten der armen Leute steht die Bäckerei von Mrs. Lovett (Helena Bonham Carter), in der sie „die schlechtesten Pasteten von London“ produziert. Während sie sich singend und backend einführt, schlägt sie mit dem Nudelholz auf ganze Legionen von Maden ein, die das verdreckte Ladenlokal bevölkern. Dem soeben eingetroffenen Gast serviert sie einen Branntwein zum Herunterspülen ihres grässlichen Gebäcks – doch in Farbe und Konsistenz erinnert auch er bloß an Petroleum.

Burtons Londoner Topografie erinnert an die kunstvoll verzogenen Bauten, an die in Kulissen gemalten Schatten, die schiefen Winkel und Ebenen des expressionistischen deutschen Stummfilms. Auch die grau-blaue Monotonie der Stadtlandschaft, der Kostüme und des Interieurs wirkt fast schwarz-weiß. Dabei ist „Sweeney Todd“ ein Farbfilm und alles andere als stumm, da mag Johnny Depp in der Hauptrolle seinen Darstellungsstil dem Dekor noch so sehr angepasst haben – mit einer ausgreifenden, grotesken Gestik, die dessen Bizarrerie auf ihre Weise kommentiert.

Sweeney Todd und Mrs. Lovett werden zu Komplizen beim Rachefeldzug Todds: vor Jahren von einem bösen Richter unschuldig eines Verbrechens angeklagt, wurde er seiner gesicherten Existenz samt Frau und Tochter beraubt und in die Kolonien geschickt. Todd nimmt seinen Beruf als Barbier wieder auf und gewinnt bei einem öffentlichen Schau-Rasieren, nachdem er den eitlen, betrügerischen Konkurrenten Pirelli ausgestochen und einen Ruf erworben hat, der sich in Windeseile verbreitet. Aber niemand, soviel ist sicher, wird seinen Laden lebend verlassen, so lange der furchtbare Richter und seine Spießgesellen noch nicht unter Sweeneys Messer geraten sind. Todd steigert sich in einen Blutrausch, entsorgt seine Opfer mit einer raffinierten Schub-, Klapp- und Rutschvorrichtung direkt in den Keller, wo die Leichen zerstückelt und zu Hackfleisch verarbeitet werden, das aus Mrs. Lovetts Kunden Kannibalen macht. Zusammen mit dem Laufburschen des gewissermaßen zur Übung ermordeten Pirelli, dessen sich Mrs. Lovett liebevoll annimmt, bilden die drei eine mörderische Kleinfamilie.

Tim Burtons Inszenierung dieses Broadway-Musicals gelingt es tatsächlich, Sympathie für seine drei finsteren Protagonisten zu wecken. Während Blutfontänen aus den Kehlen der unglücklichen Opfer schießen und Mrs. Lovetts Verkaufszahlen gleichermaßen rasant in die Höhe schnellen, entwickelt sich nebenbei ein melodramatischer Handlungszweig um unerwiderte Liebe, zurückgewiesene Leidenschaft und Kleine-LeuteTräume von einer besseren Zukunft. Goldgelbe Filter lassen die wenigen Rückblenden hyperrealistisch erscheinen, und die Zukunftsfantasien der Mrs. Lovett wirken durch tableauartige Arrangements in Sepiatönen wie alte Fotografien. Diese Exkurse in bessere Zeiten und Welten stehen allerdings schon ästhetisch in so schrillem Gegensatz zum Gegenwarts-London, dass auch das finstere Tun der Figuren umso unausweichlicher erscheint.

Sie sind verloren wie Zombies oder der Fliegende Holländer; und das Flüstern und Raunen, mit dem der großartig agierende Johnny Depp den programmatischen Song von seinen besten Freunden, den Rasiermessern, interpretiert, scheint denn auch nicht von dieser Welt zu sein. Zu Recht sind Johnny Depp, der Filmarchitekt Dante Ferretti und die Kostümdesignerin Colleen Atwood für Oscars nominiert.

In 19 Berliner Kinos; OV im Cinestar

SonyCenter und Colosseum; OmU im

Central Hackescher Markt

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