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Margot Hoffmann in ihrem Kiosk an der Ecke Preußenallee und Reichsstraße.

© Mike Wolff

Kioskkultur in Berlin: Weltbühne Westend

Margot Hoffmann hält in ihrem Kiosk den Kiez zusammen: Sie hütet Kinder und Hunde, leitet Pakete weiter, bestellt Taxis und nimmt Schuhreperaturen an. Zeitungen gibt es natürlich auch. Ein Treffen am Tresen.

„Ich werde Sie in mein Abendgebet einschließen“, lächelt die alte Dame, während sie ohne Eile ihr Portemonnaie und die eben gekaufte Zeitung in ihrer Handtasche verstaut. Dann trippelt sie den Bürgersteig der Preußenallee entlang. Die Frau auf der anderen Seite des Kiosktresens winkt ihr freundlich nach. „Ich sie auch.“ Wahrscheinlich finden solche Abschiedsszenen an Berliner Kiosken eher selten statt, denn an wenigen geht es derart familiär zu wie hier an der Ecke Preußenallee und Reichsstraße.

Schon steht die nächste Kundin am Tresen. Wieder eine ältere Dame, die einen schwarzen Dackel an der Leine führt. „Komm, dickes Ding!“, ruft die Kioskfrau dem Tier zu und wirft einen Hundekuchen in seine Richtung. „Ich wollte mich nur kurz abmelden“, sagt dessen Frauchen. „Übers Wochenende bin ich bei meiner Enkelin in Nürnberg.“

Die Frau hinter dem Tresen heißt Margot Hoffmann und betreibt ihren Laden schon seit 1994. Wie an jedem Morgen ist sie heute um drei Uhr aufgestanden, hat um vier Uhr die erste U-Bahn am Rathaus Spandau genommen und kurz vor fünf den Laden geöffnet.

„Hab’ Glück gehabt heute“, lacht Frau Hoffmann und streicht durch ihren frisch blondierten Kurzhaarschnitt. „Zufällig kam ein Stammkunde früher als sonst vorbei. Der hat mir geholfen.“ Dabei zeigt sie auf eine große, verschließbare Holzkiste, die an der Vorderseite der Bude lehnt, „die Zeitungen reinzuholen, die nachts geliefert wurden. Naja, das wird auch nicht leichter mit der Schlepperei. 61 Jahre habe ich mittlerweile auf dem Buckel“. Frau Hoffmann zuckt mit den Achseln und sieht dabei mindestens zehn Jahre jünger aus. Sie will weitererzählen, als ein Mann mit einem kleinen Flaschenkarton aus seinem Taxi steigt, das er gerade eben am Stand direkt hinter der Bude geparkt hat. „Ist für Werner“, sagt er. „Der kommt den nachher abholen.“

„Hast du deine Schuhe dabei, Klaus?“, will Frau Hoffmann wissen. „Der Schuster kommt nachher vorbei.“ „Nee, Margot, hab’ ich vergessen. Bring’ ich übermorgen mit.“ Als er abfährt, hupt er kurz zum Gruß. Frau Hoffmann schaut ihm nach, bis sein Wagen um die Ecke gebogen ist.

Dann erklärt sie, was es mit den Schuhen auf sich hat: „Der Schuster kommt zweimal pro Woche aus Spandau und holt die Schuhe ab, die meine Kunden bei mir abgegeben haben. Das mache ich schon seit der Zeit, als ich dort noch meinen großen Laden hatte. Eigentlich schleift er auch Scheren und Messer. Aber das will komischerweise keiner mehr. Messer sind wohl zu billig geworden.“

Für einige Minuten kommt kein weiterer Kunde an den Kiosk. Also hat Frau Hoffmann Zeit zu erzählen.

Es dauerte nicht lange, da gaben auch andere Nachbarn ihre Kinder für ein paar Stunden bei Frau Hoffmann ab.

Geboren wurde sie in Heiligenhafen und lernte zunächst Einzelhandelskauffrau. Aber die Stadt an der Ostsee wurde ihr bald zu klein, und heute besucht sie dort nur noch zwischen Weihnachten und Neujahr ihre Mutter. Die junge Margot zog nach Berlin, wo sie sich zunächst zur Pflegehelferin und später zur Krankenschwester ausbilden ließ. „Die nächsten Jahre habe ich in den Spandauer Krankenhäusern gearbeitet.“ Am längsten war sie in der Nervenklinik Spandau tätig. In dieser Zeit lernte sie auch ihren Partner kennen, mit dem sie einen Zeitungsladen übernahm. Da sie aber zunächst weiter als Schwester Schichtarbeit leistete, stellte der sich bald als zu groß heraus.

„Da sind wir zu dem hier gewechselt.“ Sie klopft gegen den schmalen Tresen und schaut zum ersten Mal ernst. „Aber mein Freund konnte nie so gut mit den Kunden. Ein paar von denen haben einen Bogen um den Laden gemacht, wenn er verkauft hat.“ Vor zehn Jahren machten die beiden auch einen Bogen umeinander. Seitdem steht Frau Hoffmann sechs Tage pro Woche neun Stunden lang allein im Laden. „Ich sag das ungern, aber es lief gleich besser.“ Ein diebisches Grinsen huscht über ihr Gesicht.

Den ersten Sonderauftrag bekam sie von einer jungen Mutter. „Die hatte zwei kleine Jungs und musste dringend irgendwo hin. Da habe ich gefragt, ob ich auf die Kinder aufpassen soll. Wir haben die ganze Zeit Kaufmannsladen gespielt. Sie waren die Kaufleute, und ich habe ihnen vom Bürgersteig aus für ein paar Pfennige Sachen abgekauft. Die Mutter hat das sofort rumerzählt. Simon und Gregor sind heute 16 und 13 Jahre alt. Die kommen immer noch zu mir. Simon will seit einiger Zeit Zigaretten haben. Aber da kann er lange warten!“

Es dauerte nicht lange, da gaben auch andere Nachbarn ihre Kinder für ein paar Stunden bei Frau Hoffmann ab. Oder ihren Hund. Oder ihre Katze. Wird ihr dieser Aufwand eigentlich nie zu groß?

„Och nö“, winkt sie ab. „Macht doch Spaß. Außerdem geben mir die Leute ja auch was dafür. Eine Frau im Haus da drüben kocht oft extra viel, damit sie mir eine Portion herbringen kann. Kaffee und Brötchen bekomme ich eigentlich immer von den Taxifahrern. Und...“, sie unterbricht sich, „da hinten kommt mein Tee!“

Tatsächlich eilt gerade eine schlanke Frau mit Thermoskanne in der Hand auf den Kiosk zu. „Morgen! Kann ich Dir vielleicht Paul für eine Stunde vorbeibringen?“, fragt sie. „Nachher muss ich zum Arzt, da langweilt er sich immer so. Ich hol’ ihn dann einfach zusammen mit der Kanne ab.“ Kein Problem für Margot Hoffmann. Sie antwortet: „Dann lass’ ich ihn wieder Comics lesen“, nickt sie. „Heute Nacht ist das neue ,Lustige Taschenbuch’ gekommen.“

Langsam wird es Zeit, diese kleine Welttheaterbühne im Westend zu verlassen. Auf dem Weg zur U-Bahn kommt die Mutter von eben mit ihrem Sohn aus einem Nachbarhaus. Sie gibt Paul einen kleinen Schubs, und der wackelt auf Margot Hoffmann zu, die ihn bereits winkend willkommen heißt. Pauls Mutter nickt. Und dann sagt sie: „Margot ist ein Rädchen im Westend, das dafür sorgt, dass man sich hier wohlfühlt.“

Knud Kohr

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