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Claudio Abbado und das Lucerne Festival Orchestra: Klecksen und Klotzen

Die reichste Stadt der reichen Schweiz treibt ein kokettes Spiel mit den Signalen der Revolution. Dabei feiert Claudio Abbado mit dem Lucerne Festival Orchestra doch nur zehnjähriges Bestehen.

Wer hätte das zu hoffen gewagt? Als Claudio Abbado im Frühjahr 2000 dem Luzerner Festivalintendanten Michael Haefliger eröffnete, er wolle nach seinem Abschied von den Berliner Philharmonikern ein neues Orchester gründen, da war er gerade dem Tod entronnen. Große Teile seines Magens hatten aufgrund eines tückischen Krebsbefalls entfernt werden müssen. Aber er wollte weitermachen, unbedingt, um aus der Musik, seiner Lebenspassion, neue Kraft zu schöpfen. Nur eben nicht nach den üblichen Regeln des Klassikbetriebs. Was sich Abbado am Vierwaldstättersee vorstellte, war ein sommerliches Zusammentreffen mit seinen Künstlerfreunden. Fernab üblicher Probenrhythmen, frei von gewerkschaftlichen Vorgaben sollte hier einfach gemeinsam musiziert werden. Mit dem schönen Nebeneffekt einiger öffentlicher Auftritte.

Der Tagesspiegel-Bericht über das Debüt des Lucerne Festival Orchestra am 16. August 2003 trug den Titel „Das Wunder von Luzern“. Was Abbado besonders an der Arbeit mit Nachwuchsformationen liebt, die rückhaltlose Hingabe, hatte sich hier mit der klanglichen Raffinesse erfahrener Spitzenprofis gepaart. Denn neben den Mitgliedern des von ihm gegründeten Mahler Chamber Orchestra saßen ganze Streichquartettformationen, berühmte Instrumentalsolisten und Stimmführer der weltbesten Orchester auf der Bühne. Die Klarinettistin Sabine Meyer, der Trompeter Reinhold Friedrich und der Bratschist Wolfram Christ sind immer noch dabei, bis heute kann man sich für das Orchesterprojekt nicht bewerben. Die Teilnehmer werden von Claudio Abbado persönlich berufen. Und er selber ist mit seinem Herzensprojekt gewachsen, von Jahr zu Jahr, in Luzern und auf Tourneen mit seiner Truppe, die bis nach Moskau, Peking und Tokio führten. Jetzt, mit 80 Jahren, wirkt er vitaler als vor seiner Krankheit, fokussiert, energiegeladen, im Reinen mit sich selbst.

Livedarbietungen klassischer Musik eröffnen dem Publikum die Chance, aus dem Alltag herauszutreten, in einer Welt einzutauchen, in der andere Zeitmaßstäbe gelten. In der Oper geht das Leben in Schüben vorwärts, steht immer dann still, wenn die Protagonisten in ihren Arien Seelenschau betreiben. „Autonome Musik“ nennen Fachleute die Sinfonik, weil hier das tönende Geschehen für sich steht, losgelöst von gewohnten Erzählformen, ein Gedankenspiel. Wenn es den hoch qualifizierten Spezialisten, die ihrem Publikum solche Erlebnisse verschaffen, gelingt, selber aus jener Saisonroutine herauszutreten, die sich in „Dienste“ einteilt, kann echte Festivalatmosphäre entstehen.

So wie in Luzern, während Abbados Ferienfreizeiten. „Bei uns ist immer Sonntag“ nennt Intendant Haefliger diesen Zustand. Der ist freilich teuer erkauft. Unter 170 Franken sind nur die letzten sechs Reihen im 4. Rang zu haben. Wer in Jean Nouvels grandiosem Konzerthaus dem Maestro nahe sein will, muss 350 Franken berappen. Fünf Prozent des Luzerner Etats werden vom Staat finanziert, 40 Prozent kommen von Sponsoren, der Rest muss durch den Ticketverkauf hereinkommen.

Umso absurder mutet es an, wenn in diesem Sommer das Motto „Viva la revolución!“ lautet. In der reichsten Stadt der reichen Schweiz mutet das so wohlfeil an wie Wohlstandskinder, die im Che-Guevara-T-Shirt zum Shoppingbummel aufbrechen. Beim Empfang eines Hauptsponsors stellen Smokingträger ihre Gläser auf Tischchen ab, auf denen Sprüche von Karl Max und Rosa Luxemburg zu lesen sind. Bei der Eröffnungsrede im Saal beeilt sich Festivalpräsident Hubert Achermann darum zu betonen, die verspritzten roten Kleckse auf dem Luzerner Logo seien keinesfalls Blutflecken. Was da über die Plakate, Broschüren und Programmhefte laufe, stelle grafisch lediglich das Ergebnis gezielter Farbbeutelwürfe nach.

Claudio Abbado, der politisch wache Feingeist, unterläuft das diskutable Motto auf seine Weise. Indem er in Beethovens „Eroica“ die Schattenseite aller Umstürze zeigt: die Opfer, den Tod. An der Partitur, die der Komponist zuerst Napoleon widmen wollte, betont Abbado nicht das Heroische, nicht das kriegerisch zum Sieg Stürmende. Der Kopfsatz beginnt bei ihm geradezu beiläufig. Immer wenn die berühmten scharfen TuttiRepetitionen scheinbar nach dirigentischer Härte verlangen, ist er gedanklich schon bei der zarten Melodie, die anschließend einsetzt.

Das Herzstück seiner „Eroica“ wird der Trauermarsch sein. Ganz anders als in der Aufnahme des Sinfonienzyklus mit den Berliner Philharmonikern, die vor allem den Humanisten Beethoven feiert, spitzt Abbado jetzt in Luzern die „marcia funebre“ theatralisch zu. Sehr, sehr langsam schlägt der Puls dieser müde schreitenden Musik, vor dem inneren Auge des Zuhörers entstehen Bilder von Schlachtfeldern im Morgennebel. Aufgewühlte Erde, zerbrochenes Gerät, Pferdeleichen. Napoleon in Waterloo.

Über alle vier Sätze der „Eroica“ schlägt Claudio Abbado einen einzigen, weiten Spannungsbogen. Der allerdings erschließt sich dem Publikum erst vom Ende her, wenn nach dem Trauermarsch auch im schelmischen Scherzo und im flotten Finale die Restbitternis nicht weichen will. Mit kammermusikalischer Aufmerksamkeit, wie Abbado es schätzt, folgen ihm seine Musikerfreunde durch das Werk, bis hin zu rhythmischer Ruppigkeit und der bewussten Betonung dissonanter Tonsatz-„Verunreinigungen“, wenn der Dirigent im Schlusssatz Traditionslinien barocker Rhetorik betont, ganz im Geiste der historischen Aufführungspraxis.

Auf seine subtile Art hatte Abbado zuvor bereits Brahms’ „Tragische Ouvertüre“ und das „Lied der Waldtaube“ aus Schönbergs „Gurreliedern“ (Solistin: Mihoko Fujimura) als revolutionär gedeutet. Dabei scheinen doch beide Komponisten gerade in diesen Stücken ganz aus der Tradition zu schöpfen. Indem der Dirigent aber bei Brahms ein extrem weiches Streicherfundament zum frei strömendes Klangkontinuum werden lässt, entsteht eine atmosphärische Vielgestaltigkeit, die tatsächlich auf die Emotionslandschaften Gustav Mahlers vorausweist. Bei Schönbergs Frühwerk dagegen verzichtet Abbado auf jegliches Schwelgen in spätestromantischer Dekadenz zugunsten eines gleißenden, modernen Klangs. Als wolle er die edelmetallische Schönheit von Jugendstilschmuck in Töne fassen.

Das Festival läuft bis 15. September.

Infos unter www.lucernefestival.ch

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