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Kultur: Kleine Blitze schlagen in große Bäume ein

Das Bild nennt sich "Grüner Pulsschlag". Es könnte aber auch ein verblichenes, schlecht aufgespanntes Geschirrhandtuch sein.

Das Bild nennt sich "Grüner Pulsschlag". Es könnte aber auch ein verblichenes, schlecht aufgespanntes Geschirrhandtuch sein. Luigi Senesis 80 mal 80 Zentimeter große "Pulsazione verde" machen die schwankenden Berliner Temperaturen zu schaffen, und so pulsieren die pastelltürkisen bis tannengrünen Quadrate auf seinem Bild nicht nur optisch, sondern derzeit auch faktisch in der Galerie Kyra Maralt. Als der italienische Künstler, Jahrgang 38, vor 24 Jahren dieses Stück Leinwand bemalte, schuf er es nicht für die Ewigkeit, sondern arbeitete vielmehr an einer neuen Theorie der Kunst. Zusammen mit Mauro Cappelletti, Diego Mazzonelli, Gianni Pellegrini, Aldo Schmid und Guiseppe Wenter Marini manifestierte er sie in Trient ein Jahr später im November 1976 unter dem Begriff "Objektive Abstraktion". Als Luigi Senesi 1971 damit beginnt, sein künstlerisches Studium ausschließlich der Farbenlehre zu widmen, schließt er sich einem Trend an, der im norditalienischen Trient 1967 durch eine Ausstellung ausgelöst wurde, an der unter anderen der japanische Maler Nobuya Abe mit geometrischen Bildern teilnahm, die er "Kern" oder "Diamant" nannte.Damals mit von der Partie war auch Aldo Schmid, Senesis späteres geistiges Alter ego. Schmid war fasziniert von den Bildern des Japaners, dem es seiner Meinung nach gelang, nur mit der Form, dem Material und einer bestimmten Farbgebung in jedem Bild unterschiedliche, voneinander abhängige Intensitäten im Ausdruck zu schaffen. 1976 schließlich kennt Schmid selbst nur noch Formen, Farben und das Licht. Noch vor dem Gruppenmanifest "Astrazione oggetiva" veröffentlicht er sein "Non-Nero", eine Farbtheorie, die auf farblichen Gegensätzen fußt, aber das Schwarz verneint.Fast gleichzeitig stellt Senesi seine "Post-Chromatik" vor, eine Farbenlehre aus 57 Farbkombinationen, die allein auf Mischungen von sechs Primär- und sechs Komplementärfarben beruht. In Berlin sind nun zum ersten Mal Bilder aus den frühen 70er Jahren von Senesi, Schmid und - abgesehen von Marini - auch der übrigen Gruppenmitglieder zu sehen. Die aus Amerika in den 60ern herübergeschwappte Op-Art, die Kunst geometrisch-abstrakter Farb-Licht-Beziehungen war das Stichwort, poppig die Palette und Acryl das Mittel der Italiener.Schmid gab den Geometriker, den Analytiker, den Maler, der mit klaren Linien, Ecken und Kanten die Bildfläche erforschte wie ein Wissenschaftler einen empirischen Reihenversuch. Es war der bewußte Verzicht auf künstlerische Genialität zugunsten des Konkreten, der Forschung, dem experimentell Nachweisbaren, der Technik. Senesi blieb hingegen dem Lyrischen verhaftet. Bei ihm verschwimmen die Linien und Farbflächen wie die Pixel auf einem unscharfen Fernsehbild. Und nicht weniger konstruiert kommen auch die Bilder der um 10 bis 20 Jahre jüngeren Kollegen Cappelletti, Mazzonelli und Pellegrini daher. Die "Fluoreszierende Diagonale" des ersteren sowie Mazzonellis schrillen, wie in einem Fensterkreuz streng geometrisch angelegten gelb, lila und schwarzen Farbvariationen aus den 70ern würden noch heute einen LSD-Trip möglicherweise bedrohlich forcieren, lösen sie doch bereits im drogenfreien Zustand beträchtliche Vibrationen und Irritationen aus.Senesis und Schmids Erforschungen von Licht- und Farbfeldern kamen abrupt zum Stehen: Beide verloren 1978 bei einem Eisenbahnunglück ihr Leben. Die Gruppe fiel danach auseinander, aber der Abstraktion blieben die Überlebenden treu. Mazzonelli ist irgendwo im Umkreis der russischen Suprematisten der 10er und 20er Jahre gelandet, bei Cappaletti schlagen die grell leuchtenden Diagonalen jetzt wie kleine Blitze in große Baumstämme ein. Einzig Pellegrini ist wieder zu seinen fast monochromatischen Bildern zurückgekehrt, nun aber im klassisch italienischen Tondo, als wolle er mit seinen schwarzen Streifen auf anthrazitfarbenem Grund wie einst Raffael der Madonna huldigen. "Orientierungen" nennt er seine kreisrunden Bilder von 1999. Man könnte es reine Dekoration nennen, am Ende dieses Jahrtausends aber auch als die notwendige abstrakte Arabeske bezeichnen.

Galerie Kyra Maralt, Leibnizstraße 60, bis 5. August; Dienstag bis Freitag 12 - 19 Uhr, Sonnabend 12 - 16 Uhr.

PETRA WELZEL

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