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Adolph Friedländers Plakat für ein Anatomisches Museum

©  Münchner Stadtmuseum/Deutsches Hygiene-Museum Dresden

Körper-Schau im Deutschen Hygiene-Museum Dresden: Schöner gruseln

Nichts für zarte Gemüter: Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden zeigt in „Blicke! Körper! Sensationen!“ historische anatomische Wachsfiguren – und wie heutige Künstler den Menschen modellieren.

Der Artist hat seinen Kopf tief in den Nacken geworfen. In seinen weit geöffneten Mund, der von einem hochgezwirbelten Kaiser-Wilhelm-Bart geschmückt wird, ist ein Degen fast bis zum Heft hineingeschoben. Brust und Bauch des Mannes sind freigelegt. So kann der Betrachter erkennen, wie die Klinge durch den Schlund und die Speiseröhre, vorbei an Herz und Lunge, bis zum Boden des Magens geglitten ist, wo sie in Essensresten steckt. Das Kunststück des Schwertschluckers inspirierte den Arzt Adolf Kußmaul 1868 zum ersten Versuch einer Magenspiegelung. Es ist ein seltenes Beispiel dafür, dass die Zirkuskunst die Medizin beeinflusst hat.

Das Wachsmodell des Schwertschluckers, entstanden um 1900, gehört zu den Prunkstücken der Ausstellung „Blicke! Körper! Sensationen!“ im Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Der marktschreierische Erregungston passt, denn gezeigt werden Gegenstände, die früher auf Jahrmärkten, Volksfesten, Messen und in Wirtshäusern präsentiert wurden. Den Museumsleuten ist es gelungen, ein nahezu komplettes Anatomisches Wachskabinett zu erwerben, dessen Figuren größtenteils ab 1856 von der Werkstatt des Dresdner Modelleurs Rudolf Pohl hergestellt worden waren. Zum Ankauf gehören rund 80 Vitrinen mit 200 Wachsmodellen und 50 weiteren historischen Schaustücken, darunter einer der legendären „Gläsernen Männer“ aus Dresdner Vorkriegsproduktion. Kein anderes deutsches Museum verfügt über eine ähnlich große Sammlung von Wachspräparaten.

Organe ausgestellt wie in der Metzgerei

Aufmerksam geworden auf den Schatz war das Haus durch einen Zeitungsbericht über die Ausstellung eines Anatomischen Kabinetts mit Dresdner Wurzeln in Helsinki. Ursprünglich war die Dresdner Schaustellerfamilie Hoppe mit den Wachsfiguren durch Städte und Dörfer getingelt und hatte dabei mit Parolen wie „Das Wunder des Lebens! Erkenne dich selbst!“ geworben. Der Höhepunkt der Vorführung war erreicht, wenn ein Schausteller im weißen Kittel an einen Seziertisch mit einer aufgeschnittenen Wachsfrau trat und wie in der Metzgerei deren Organe einzeln präsentierte. Eine Mischung aus Schrecken und Erkenntnis, die Walter Benjamin 1928 nach dem Besuch der Berliner Ausstellung „Der Mensch und seine Ernährung“ so beschrieb: „Die Masse kann Wissen nur mit dem kleinen Chock in sich aufnehmen, der das Erlebte im Inneren festnagelt. Ihre Bildung ist eine Folge von Katastrophen, die sie auf Rummelplätzen und Jahrmärkten in verdunkelten Zelten ereilen, wo ihnen Anatomie in die Glieder fährt.“

Doch spätestens seit Beginn des Fernsehzeitalters existierten andere Sensationen, die den Menschen, ganz ohne dass sie dafür Eintritt zahlen mussten, in die Glieder fuhren. Die Besucherzahlen brachen dramatisch ein. Familie Hoppe verkaufte das Kabinett 1987 an einen Kölner Konkurrenten, der mit dem „größten Wunder aller Zeiten“ noch ein Jahr lang durch die westdeutsche Provinz tourte. Anfang der neunziger Jahre ging die Sammlung nach Finnland, wo sie nach einigen Auftritten in Skandinavien in einem Holzschuppen nahe der Kleinstadt Pori eingelagert wurde. Bis das Museum die Wachsmodelle wachküsste.

Das Geschlechtskrankenheiten-Spektakel

„Hereinspaziert!“, steht über dem Eingang der Ausstellung, und drinnen fühlt man sich tatsächlich wie in einer zirkusartig fremden, kuriosen und erschreckenden Welt. Um 1800 – das ist in einem Nebenraum zur Geschichte der Wunderkammern zu sehen – beschäftigte man sich noch mit antiken Idealen. So stellen die Wachsfiguren des Wiener Josephinums junge, gesunde Menschen von ebenmäßiger Schönheit dar. Das 19. Jahrhundert hingegen hing mit zunehmender Tendenz den kulturpessimistischen Ideen von Verfall und Krankheit an. Folgerichtig versammelt das Dresdner Kabinett ausschließlich Abbildungen von versehrten, angeschlagenen und verunglückten Menschen. Bei einigen Exponaten braucht der Betrachter starke Nerven.

Wie Schneewittchen in Glassarg liegt eine junge Frau in ihrer Vitrine, die – das beweisen die dunkelrot-bläulichen Spuren des Einschlags auf ihrer Brust – vom Blitz erschlagen wurde. Damals war das eine relativ häufige Todesart, um 1900 starben alljährlich etwa 300 Menschen durch Blitzschlag. Etwas weiter entfernt ist „die Schwindsucht an dem Oberkörper eines jungen Mannes dargestellt“ zu sehen, sowie ein Arm, dessen Hand durch eine Kreissäge abgetrennt wurde und nun mithilfe eines „Esmarchschen Hosenträgers“ abgebunden wird. Daneben: der geöffnete Körper einer Frau mit Bauchhöhlenschwangerschaft und einem Embryo im Gedärm. Doch ein Großteil der Stücke beschäftigt sich mit Geschlechtskrankheiten. Sie wurden ursprünglich in einer abgetrennten „Extra-Abteilung“ gezeigt und vermischen Aufklärung und Voyeurismus.

Die Modelle klärten auch über Tabu-Krankheiten wie Syphilis oder Gonorrhoe auf.

Körper im Detail. „Nervenkopf“, hergestellt vor 1880 in Leipzig.
Körper im Detail. „Nervenkopf“, hergestellt vor 1880 in Leipzig.

©  Deutsches Hygiene-Museum

Krankheiten wie Syphilis, Gonorrhoe und Weicher Schanker wurden lange tabuisiert und waren noch um die Jahrhundertwende weit verbreitet. „Lassen Sie es nicht zu den hier gezeigten Folgen kommen“, heißt es im pädagogischen Warnton auf einem originalen Begleitzettel. Und bei der Darstellung eines Kindergesichts mit Masern heißt es: „Die Krankheit ist sehr ansteckend, und es ist daher die erste Bedingung für Eltern, ihre Kinder nicht zum Erkrankten zu lassen.“ Ob die Exponate tatsächlich mehr der Belehrung dienten als dem Spektakel, lässt sich schwer sagen. Fest steht aber, dass die Abbildung des Penis eines Syphilis-Kranken in mehreren Verfallsstufen bis zu seiner Zerstörung vor allem die Schaulust befriedigt haben dürfte.

In einer Zeit, in der Homosexualität noch strafbar war, wurden Geschlechtskrankheiten gerne den Schwulen zugeschrieben. Neben einem Wachshintern lautet der Kommentar: „Gesäß eines Mannes mit syphilitischem Geschwür am After, angesteckt durch einen Anderen, dessen Ruthe mit Syphilis behaftet war, der an ihm im Zustand der Trunkenheit die Päderastie ausführte.“ Ähnlich homophobe Anmerkungen gibt es reichlich. Was sich streng wissenschaftlich gibt, vermischt in Wirklichkeit Vorurteil und Fakten.

Eine Nackte - schlafend oder aus Wachs?

Modelleure, die in Wachs ein möglichst exaktes Abbild des menschlichen Körpers erschufen, gehören einer untergegangenen Epoche an. Ihr Erbe haben die bildenden Künstler angetreten. Deshalb gehört es zum Konzept der von der Berliner Kuratorin Eva Meyer-Hermann zusammengestellten Ausstellung, das Wachskabinett mit modernen Skulpturen, Bildern und Installationen zu konfrontieren. Silikon hat das Wachs abgelöst, etwa bei der Skulptur „That Girl (T. G. Asleep)“ des kalifornischen Künstlers Paul McCarthy. Es handelt sich um den Lebendabguss einer Assistentin des Bildhauers, detailgenau bis zu den Fußnägeln. Nackt und wie schlafend liegt die junge Frau auf einem Tisch. Oder ist sie tot und der Tisch eine Sektionswanne? Die meisten Zuschauer wahren beklommen Abstand – kaum einer wagt es, der Figur zwischen die Beine zu blicken. Der alte Traum von der Verschmelzung von Leben und Kunst – hier hat er sich erfüllt.

Körper unerbittlich in den Blick zu nehmen, diese Tradition setzen Künstler bis in die Gegenwart fort. Marcel Duchamp lässt den Torso einer Frau scheinbar aus seinem Bilderrahmen klettern. Luc Tuymans zeigt in seiner Gemäldeserie „Der diagnostische Blick“ Karzinome auf der Haut von Krebspatienten. Und Asta Gröting hat für ihre Arbeit „Space Between Lovers“ die Körper von Liebenden bei der Vereinigung in Kunststoff abgegossen. Und wenn Valie Export in einer feministischen Aktion namens „Pussy Power“ ihre Vagina präsentiert, dann antwortet Robert Gober darauf dadaistisch mit der Plastik einer Vagina, die den beschuhten Fuß eines Anzugmannes zur Welt bringt. Den ultimativen Männerkörper hat aber Alexandra Bircken erschaffen. Es ist ein Motorrad der Marke Aprilia, in der Mitte sauber durchgesägt. Statt in das Gedärm der Wachsfiguren schauen wir in das Metallgekröse eines Hochleistungsvehikels. Wir sind die Roboter.

Deutsches Hygiene-Museum, Dresden, bis 19. April. Der Katalog (erschienen im Wallstein Verlag) kostet 24,90 €.

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