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Endstation Museum. „Die lebende Münze“ nach Pierre Klossowski. Foto: Marcus Lieberenz

© Marcus Lieberenz/bildbuehne.de

Kultur: Körperschaften

Bitte mitspielen: Performances zur Berlin Biennale im HAU

Kaum hat man seine Karte an der Kasse abgeholt, wird man wieder aus dem Theater geschickt: Das Publikum sammelt sich vor dem Seiteneingang, um direkt auf die Bühne geleitet zu werden. Dort hallen die Schritte der umherstreifenden Neuankömmlinge wider, die sich erst allmählich mit der ungewohnten Ermächtigung zurechtfinden. Eine Frau greift nach den Seifenblasen, die von der Decke fallen – und rutscht prompt auf der Seifenpfütze aus. Eine Performance? Nein, Pech. Der Boden ist unsicher an diesem Abend, so wie das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern.

Zu dem Zeitpunkt ahnen die meisten noch nicht, dass in Teresa Margolles’ Seifenblasen, die so schön schillernd herabregnen, Wasser aus der Gerichtsmedizin steckt, mit denen Leichen von Mordopfern gewaschen wurden.

Um das problematisch gewordene Verhältnis zur Wirklichkeit dreht sich Kathrin Rhombergs Berlin Biennale. In deren Rahmen hat der Kurator Pierre Bal-Blanc eine dreitägige Ausstellung mit Performances eingerichtet. Der Zuschauer soll sich hier als Akteur begreifen, der die Grenzen der Werke bestimmt, indem er während der fünf Stunden kommt und geht, wann er will – ein demokratischer Ansatz, ähnlich wie ihn der Komponist Cornelius Cardew in den Sechzigern verfolgte.

In dessen Musik, die im Bühnengraben aufgeführt wird, mischt sich das Rattern von Nähmaschinen. Die Mitarbeiterinnen einer Berliner Schneiderei haben nach Anweisung von Jens Haaning ihren Arbeitsplatz auf die Theaterbühne verlagert und produzieren Babykleidung. Eine Versetzung von Wirklichkeit statt der Produktion geschlossener Werke.

Pierre Bal-Blanc sieht die Geschichte der Avantgarden erschöpft; endete doch jede neue Bewegung als Marke auf dem Markt und im Museum. Der Kurator sucht nach Ausstellungsformen, die das Publikum aktivieren, um neue Erfahrungen zu produzieren. Ein neues Kunstverständnis ist gesucht, das nicht der herrschenden Ökonomie in die Hände spielt. Der Bruch mit der Konsumentenhaltung und der Linearität verlangt dem Besucher allerdings einige Ausdauer ab.

Als Vorlage für das Projekt, das zuvor unter anderem in Paris und der Londoner Tate Modern zu sehen war, dient Pierre Klossowskis Essay „Die lebende Münze“ von 1970. Darin entwarf der Schriftsteller und Künstler eine Ökonomie, in der statt abstraktem Geld der menschliche Körper selbst als Zahlungsmittel dient. Vor dem Hintergrund seiner provokanten Thesen hinterfragt Bal-Blancs Projekt das Verhältnis von Körper und Ökonomie.

Da darf der Spanier Santiago Serra nicht fehlen, dessen Perfomances Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus reproduzieren und drastisch sichtbar machen. Seine hier aufgeführte Arbeit reflektiert die Geschichte abstrakter Kunst als eine westlicher privilegierter Männer: Zehn Arbeiter arrangieren rohe Rigipsplatten auf Anweisungen eines Vorarbeiters zu immer neuen Figuren. Dabei radebrecht eine geborene Türkin auf Einladung Artur Zmijeskis deutsche Übersetzungen von Shakespeare-Sonetten.

Die Leere herrscht vor an diesem Abend, die Dehnung von Zeit. Der Existenzialismus scheint die Philosophie der Stunde zu sein. Wer müde wird, setzt sich in den Rang und betrachtet des Geschehen von oben. Da erscheinen auch die Putzarbeiten während der Umbaupause als Performance.

Es kann sich der Eindruck aufdrängen, dass die Kunst sich hier resigniert zurückzieht: Die raffinierte Zusammenstellung historischer und aktueller Positionen ist eher für Eingeweihte als für die Welt da draußen. Als sich allerdings später Tänzer gemeinsam mit dem Publikum zu Knoten formen, begleitet von betörendem Gesang, der schließlich in minutenlanges Steineschlagen übergeht, ist die öffnende Wirkung dieses außergewöhnlichen Abends nicht mehr bloße Behauptung, sondern wird sinnlich erfahrbar.

noch einmal heute, 19.30 Uhr

Kolja Reichert

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