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Ein Sturz: Köln, wie es singt und kracht

Unweit der Grube des versunkenen Stadtarchivs spielt das Theater Elfriede Jelineks "Ein Sturz".

Am Ende, das um so vieles stärker war als der Anfang dieses denkwürdigen Spektakels, heißt es mit den letzten Worten des zuvor geheim gehaltenen Textes: „Das Wasser trägt alles, wir müssens ertragen, und Schweigen breitet sich aus. Schweigen besänftigt die Not und das Wasser die Erde. Und Stille jetzt.“

Da hat eine Springflut bereits die große Bühne des Kölner Schauspielhauses überschwemmt, und all das Wasser tauft die untergründigen Bausünden der Rhein- Metropole auf ihr biblisches Omen. Denn in Elfriede Jelineks hier uraufgeführtem Epos „Ein Sturz“ geht es um den Einsturz des Kölner Stadtarchivs im März 2009. Und das Grundwasser, das infolge wohl eines fahrlässig betriebenen U-Bahnbaus, ein Stück Gedächtnis nicht nur Kölns zerbersten und im Schlamm versinken ließ, es wird zur wahren Sündflut.

Auf der riesigen nachtschwarzen Szene glitscht eine halb nackte, urweltlich lehmfarbene Schauspieler-Tänzerin immer wieder aus, scheint in einem Wassergrab in der Bühnenmitte zu ertrinken; andere Mitwirkende des an diesem Abend mit allen Akteuren und Chören gut fünfzigköpfigen Ensembles stürzen übereinander oder versuchen verstreute Papiere aus der Nässe zu retten wie die Archivare ihre durchweichten Schätze. Über der Szene rinnt sehr symbolisch, wie aus einer schicksalsmächtigen Uhr, ein fein leuchtender Sand – und immer wieder ertönen Merksätze der anspielungsreichen Art. Sätze der ungenannten Politiker und Bürger, der Täter oder Tatenlosen: „Wir haben Banken gerufen, und Menschen sind gekommen“. Oder: „Es steht uns alles zu, aber es steht nicht mehr lang.“

Dazu tragen einzelne Akteure immer mal wieder tragikomische Masken, es ist auch ein Karneval der rheinischen Stadtkultur(en); sogar das Wort „Crossborderleasing“ fällt und meint den Fall des Ausverkaufs kommunaler Verkehrsmittel, und auch hierzu passt, dass zuvor schon zwei elegant tänzelnde Actricen aufgetreten sind, die wie Schönheitsköniginnen eine Schärpe trugen. Mit der Aufschrift „Miss Erfolg“.

Das ist einer der hübschen, dem domstädtischen Trauerfall zum Trotz auch immer wieder für Lacher sorgenden Einfälle von Karin Beier. Sie ist die Regisseurin – und die in eigener Renovierungssache erfolgreich gegen einen millionenteuren Aberwitz der örtlichen Bauplaner ankämpfende Intendantin des soeben zum „Theater des Jahres“ gekürten Kölner Hauses. Vorm Finale, zu dem eine Dreier-Band am Bühnenrand immer mal wieder die Musik von Totenglocken erklingen lässt, tanzt Beiers Ensemble den großen Apokalypso. Es ist Köln, aber es geht mit Blick auf untergründige, vordergründige, vom Lokalen ins Globale reichende Spekulationen auch ein bisschen: um den Weltuntergang.

Also verlassen die Spieler am Ende die Bühne, nur eine Kerze glimmt noch als letzter Schein über den unheiligen Wassern, und die eingangs zitierten Jelinek-Worte ertönen schon aus dem Off. „Stille jetzt“? Nein, da ist noch der Schauspieler Manfred Zapatka, der mit einem echten Pressluftbohrer in einen Betonblock dringt. Ein Geräusch wie tausendfach Zahnarzt. Übertönt erst vom Beifallsorkan, der nun aus dem Publikum losbricht. Die Kölner und viele Angereiste feiern ein Stück Theater. Und die eigene Lage.Das ist auch ein Stück Realsatire.

Denn etwa einen Luftkilometer vom Schauspielhaus entfernt gähnt das Loch in der Kölner Wirklichkeit. Die Stadt will ihr Archiv wieder neu errichten und das, was konservatorisch möglich ist, retten. Dafür braucht es wohl über 400 Millionen Euro. Die hat die Stadt nicht, die will sie vom Land, vom Bund, von der EU und der Zivilgesellschaft. Doch mehr als anderthalb Jahre nach dem Einsturz erinnert an dem eingezäunten Unglücksort noch immer kein Schild, kein offizieller Hinweis auf die Toten dort und die kulturelle Tragödie. Nichts. An eine Absperrung hat ein Mensch mit Filzstift geschrieben „Wo ist die Verantwortung?“ und die Antwort gegeben: „Im Abgrund“. Ansonsten erinnern nur ein paar Privatfotos im Fenster der Eckkneipe „Papa Rudi’s Gaffel Kölsch“ daran, was hier einmal war und geschah. Es ist, man kann es hier jeden Tag sehen, die Schande von Köln.

Was man dazu im Theater sehen und hören kann, geht freilich über den „Ein(en) Sturz“ hinaus. Karin Beier hat den bei Elfriede Jelinek eigens bestellten Text nur als Finale eines dreiaktigen, dreistündigen Abends inszeniert. Vor der Pause gibt es erst mal „Das Werk“ und „Im Bus“. „Das Werk“, 2003 von Nicolas Stemann am Wiener Burgtheater uraufgeführt, gehört in einen Zyklus von Texten, in denen die österreichische Nobelpreisträgerin sich mit dem Gebräu aus alpinen Naturmythen und der technischen Überwältigung und Ausbeutung von Natur in ihrer unheimlichen Heimat auseinandersetzt. Den konkreten Anlass bietet der Staudamm und das Stromkraftwerk von Kaprun, das von den Nazis unter Görings Schirmherrschaft begonnen wurde, dessen Bau (auch durch Zwangsarbeiter im Krieg) zahllose Menschenleben forderte und das zur Wiederstaatsgründung eines souveränen Österreichs 1955 eröffnet wurde.

Das Intermezzo „Im Bus“ betrifft dagegen einen Unfall 1994 in München, bei dem wegen eines U-Bahnbaus ein vollbesetzter Bus mitsamt einem Stück Straße in den Abgrund stürzte. Beide Texte passen zu „Ein Sturz“ wie zwei Fäuste zum Halleluja. Allesamt aber sind sie keine Stücke, sondern Prosa, die das sogenannte postdramatische Theater (wie auch in Köln) selbstständig einkürzt und als „Textflächen“ auf Stimmen, Solisten und Chöre verteilt. Das Problem ist nur: In diesem szenischen Anything-goes drohen allzu schnell Wiederholungen und Beliebigkeit. Und das Repertoire von Stemann bis Beier und anderen ähnelt sich sehr.

Immerzu wird mit Mikros frontal zum Publikum agiert, wird im alsbald durchschaubaren Wechsel nur aufgesagt, aufgeschrien, draufgeflüstert. Damit überhaupt etwas Dramatik in die Sache kommt, wird erkennbar beflissen und bedeutungsvoll getanzt, gestöhnt, am Boden gewälzt und auch in Köln ein Mix aus Conférence, Kalauer, Kabarett aufgeführt. Mal als Soli oder in Kleingruppen. Oder auch Tutti. Dann stampft und singt und sagt und klagt das ganze Bühnenhaus im Chor, nach dem Vorbild des früh verstorbenen Einar Schleef (dem Jelinek auch „Das Werk“ gewidmet hat). Die Wucht und der schwarze Witz eines Schleef (oder Schlingensief) fehlen indes.

So erscheinen die einst so giftig und poetisch polemischen Jelinek-Texte in Köln zunächst eher blass. Nachtblass. Trotz hochpräziser, eindrucksvoller Choreografien und so präsenter Akteure wie Zapatka, Caroline Peters, Thomas Loibl oder der begabten jungen Lina Beckmann. Erst der finale „Sturz“, bei dem auch Namen wie die jetzt mit Roland Koch besetzte Baufirma Bilfinger Berger genannt werden, hat es dann in sich. Plötzlich ist nun Schärfe da, wo vorher viel Sentiment waberte, und sprechende Computer und Telefone wirken hier emphatischer, kälter, zynischer als real agierende Spieler. Und der Echoraum wächst, die Bahn- und Bauschächte führen unausgesprochen und dennoch unübersehbar: auch nach Stuttgart 21. Und keine Stille jetzt.

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