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Kultur: Kommentar: Amerikanische Ufer

Hätte ich Zug nie verlassen, hätte ich eine gewaltige Reise gemacht: vom Mittelalter in die amerikanische Zeit. Aufgewachsen bin ich in einer kleinen Stadt am See, an Fronleichnam zogen wir mit dem Allerheiligsten durch die Gassen, in der Osternacht besangen wir das Lumen Christi, und drohten dunkle Regenwolken die Saat zu vernichten, wankten Wetterprozessionen mit Kreuzen und Fahnen vor die Stadt hinaus, singend und betend.

Hätte ich Zug nie verlassen, hätte ich eine gewaltige Reise gemacht: vom Mittelalter in die amerikanische Zeit. Aufgewachsen bin ich in einer kleinen Stadt am See, an Fronleichnam zogen wir mit dem Allerheiligsten durch die Gassen, in der Osternacht besangen wir das Lumen Christi, und drohten dunkle Regenwolken die Saat zu vernichten, wankten Wetterprozessionen mit Kreuzen und Fahnen vor die Stadt hinaus, singend und betend. Zug war fromm, bieder, lieblich und so langweilig, dass eines Tages, es muss Anfang der Sechziger gewesen sein, ein Zürcher Wirtschaftsanwalt einige Kantonspolitiker überreden konnte, mit einer drastischen Steuersenkung für Aufschwung und Highlife zu sorgen.

Es funktionierte auf Anhieb. Amerikanische Firmen setzten sich fest, Zug wurde reich, und wie ungeheuer dieser Reichtum mittlerweile ist, zeigt vielleicht die Tatsache, dass es die kleine Stadt am Rand der Alpen zum weltweit viertgrößten Ölumschlag-Handelsplatz gebracht hat. Natürlich legt in unserer Bucht nie ein Tanker an, alles läuft über die PCs, die in gläsernen Hochhäusern den Tag zur Nacht, die Nacht zum Tag machen, hier gelten die Zeiten von Abu Dhabi und New York, nicht mehr die Uhren von St. Oswald oder von Zytturm. Klar, die alten Zeiger drehen sich wie zuvor, aber ziemlich sinnlos, das Raumschiff Zug hat abgehoben und kreist als Global Village um ein virtuelles Börsenzentrum.

Einer sah das voraus, ein Dichter, ein Prophet: Franz Kafka. Als er gemeinsam mit Max Brod in der Eisenbahn unseren See entlang fuhr, notierte er: "Amerikanische Ufer". Später schrieb er, ohne die Neue Welt je betreten zu haben, den besten Roman über Amerika, und vielleicht, dürfen wir spekulieren, traf er damit auch Zug, diese sonderbare Kantons-Hauptstadt, die ihre Gegenwart zwischen einer mittelalterlichen Vergangenheit und einer amerikanischen Zukunft verlor. Ja, nur Kafka konnte zur Sprache bringen, was uns widerfuhr. Uns Einheimischen hat es die Sprache verschlagen - auch deshalb, weil wir mit Zahlen inzwischen besser umgehen können als mit Wörtern.

Aber das ist nicht nur in Zug passiert. Zug, das zeigt sich immer deutlicher, nahm einen Prozess vorweg, dem das ganze Land mehr und mehr anheimfällt. Das kleine Land entwirft sich ins Allzu-Große, und dieser Aufsturz (sic!) ist derart gewaltig, dass wir ihm weder im Denken noch in der Sprache gewachsen sind. Aus der Swissair wurde irgendwann die S. Air-Group, aus dem braven Zürich-Kloten das Unwort "Zürich-Unique". Es ist eine Binse, gewiss, aber ich möchte sie dennoch aussprechen. Wer sich so besinnungslos in die Beschleunigung begibt, dass ihm nicht nur das Hören und Sehen, sondern vor allem auch das Denken und Sprechen vergeht, nähert sich der Zone der Katastrophen an. Da verwundert es kaum noch, dass unsere Swissair oder S. Air-Group im Bankrott landet (und nicht mehr in Unique) und der Zuger Kantonsratssaal von einer Sekunde zur anderen in Manhattan liegt.

Der Zuger Amokläufer, aufgewachsen im Mittelalter, saß am 11. September vor dem TV-Schirm und sah in endloser Wiederholung die großen Türme in sich zusammensinken. Wenig später schritt er zur Tat. Hätte er sagen können, was ihn zerriss, vielleicht wäre dann die schreckliche Katastrophe nicht geschehen.

Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann

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