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Kultur: Kommunizierende Röhren

Glyndebourne Opera Festival: Nina Stemme begeistert in „Tristan und Isolde“, Simon Rattle und Peter Sellars deuten Mozarts „Idomeneo“ als Golfkriegsdrama

Es hat lange gedauert, bis Richard Wagner wirklich in Glyndebourne ankam. Der exzentrische Aristokrat John Christie hatte zwar einst den dritten Akt der „Meistersinger“ in seinem privaten Wohnzimmer aufgeführt, doch als er schließlich ein privates Opernhaus auf seinem Landsitz in Sussex eröffnete, gab es Mozarts „Hochzeit des Figaro“. Seit dieser Zeit ist Glyndebourne für Mozart und Rossini berühmt. Aber Christie träumte weiter von Wagners Gesamtkunstwerken. Nach dem Krieg lud er Wieland und Wolfgang Wagner ein, in der Hoffnung auf ein Bayreuther Gastspiel.

Nun dirigiert Jiri Belohlavek den ersten „Tristan“ in Glyndebourne, es inszeniert Nikolaus Lehnhoff. Belohlavek verwandelt die gewaltige Partitur in filigrane Kammermusik: Er bleibt bescheiden im Dienst des Werks, trumpft nie selbstverliebt auf und erreicht gerade dadurch große Dramatik. So wurde Nina Stemmes Rollendebüt als Isolde zur Entdeckung des Abends. Vielleicht gerade weil die Stimme nicht besonders groß ist, konzentriert sie sich auf die musikalische Gestaltung statt auf reine Lautstärke. Mit strahlender Wärme und leuchtender Dramatik verwandelt sie die Oper beinahe in „Isolde und Tristan“. In diesem intimen Theater muss niemand brüllen.

Allerdings hatte sie mit Robert Gambill einen enttäuschenden Tristan an ihrer Seite. Viel erotischer wirkt hingegen der große Klagemonolog von René Pape als König Marke. Warum würde Isolde ihn verlassen wollen? Vielleicht hätte es „Isolde und Marke“ heißen sollen. Als Kurwenal strahlte Bo Skovhus verlockende Kraft und unverarbeitete Emotionalität aus.

Letzten Endes bleibt Isolde in Lehnhoffs Inszenierung auf sich allein gestellt. Trotz der ungeschickten Aufmerksamkeiten ihrer Vertrauten Brangäne (fehlbesetzt mit Yvonne Wiedstruck) wird sie immer tiefer in den Raum gezogen. Mitten in der mystischen Dunkelheit des Vergessens wird ihr Liebestod zur magisch-strahlenden Verwandlung in eine transzendente Lichtgestalt. In den mythisch-mittelalterlichen Kostümen von Andrea Schmidt-Futterer bewegen sich die Figuren mit bedächtiger Ruhe in Richtung ihres unvermeidlichen Endes. Sie durchschreiten einen riesigen Geburtskanal (Bühne: Roland Aeschlimann), eine poetische, halb erleuchtete Zwischenwelt, in sich verloren, überflutet mit Sehnsucht. Dieser ergreifend schöne, berauschend ernste „Tristan“ setzt neue Maßstäbe.

Vom Mutterleib ging es anatomisch ein Stück weiter nach außen. In Peter Sellars’ Inszenierung von Mozarts „Idomeneo“ stellt das rot gebogene Bühnenbild von Anish Kapoor die Innenansicht einer Vagina dar. Was dies mit der 1781er opera seria zu tun haben könnte, wird jedoch nicht deutlich. Vor zehn Jahren entfachte Sellars mit seiner „Zauberflöte“ den ersten Buhsturm in der Glyndebourner Operngeschichte. Inzwischen hat sich das Publikum mit Experimenten angefreundet und erträgt auch den Anblick eines überdimensionierten weiblichen Geschlechtsorgans mit höflicher Gelassenheit. Sellars versucht, „Idomeneo“ zum Golfkriegsdrama umzudeuten. Ilia trägt eine blaue Burka, Idomeneo tritt im George-W.- Bush-Anzug mit roter Krawatte auf, umgeben von einem Chor blutbeschmierter amerikanischer Soldaten. Die entscheidende Frage war also: Wie würden die amerikanischen Sponsoren reagieren?

Glyndebourne war immer bereit, künstlerische Risiken einzugehen. Die vollständige Abhängigkeit von privaten Geldgebern und Unterstützern aus der wohlhabenden Oberschicht haben Glyndebourne nie davon abgehalten, bei den Inszenierungen neue Wege zu beschreiten. Die legendäre britische Toleranz hat immer ausreichend Raum für Wagnisse gelassen. Dieser „Idomeneo“ ist aber bloß eine naive Erzählung voll leerer Gesten. Manchmal sind die Charaktere zwar zum Greifen real, doch das ist nicht genug für fünf Stunden Aufführungsdauer.

Für absehbare Zeit zum letzten Mal dirigierte Simon Rattle eine Oper in England. Mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment setzt er auf virtuoses Spiel der Blasinstrumente und einen agilen, ausdrucksstarken Streicherklang. Rattle dirigiert äußerst stilsicher, mit verschwenderischer Aufmerksamkeit für die kleinen Momente, mit durchgehend überraschenden Effekten. Aber nicht einmal Rattle kann die dramatische Spannung bei der ungekürzten Aufführung dieses Mammutwerkes aufrechterhalten.

In Arbaces Arien (leider von Peter Hoare gesungen) schleppt sich das Geschehen müde dahin, mit dem Schlusschor kommt das Stück fast zum Erliegen. Die anschließende 15-minütige Ballett-Coda ist eine der wundervollsten symphonischen Kompositionen Mozarts, aber für die Handlung ist sie sinnlos: Die Liebenden sind bereits vereint, und es gibt nichts zu sehen außer der geistlosen Choreografie von Mark Morris für zwei Tänzer auf einer leeren Bühne. So werden diese 15 Minuten zu einer Ewigkeit. Es muss einen Weg geben, diese herrliche Musik ansprechend umzusetzen. Hier wurde er jedenfalls nicht gefunden.

Philip Langridge feierte vor 20 Jahren als Idomeneo Triumphe in Glyndebourne. Nun kehrt er zurück – und zeigt, das er die Rolle nach wie vor beherrscht. Was er stimmlich nicht mehr schafft, wird mehr als aufgewogen durch seine mutige musikalische Gestaltung. Schon deshalb lohnt sich der Besuch.

Magdalena Kozena ist ein leichtgewichtiger Idamante, dabei interessant und aufrichtig, hervorragend im Duett mit Christiane Oelze als ebenfalls schlanke, aber profunde Ilia. Anne Schwanewilms singt die Elettra technisch phänomenal, aber es gelingt Peter Sellars nicht, ihrem Charakter Leben einzuhauchen, zudem geht ihr Streben nach perfekter Stimmkontrolle auf Kosten der Leidenschaft.

Sehr beeindruckend der zu Recht berühmte Chor von Glyndebourne, der mit einer einzigen passionierten Stimme zu singen scheint. Selbst wenn sie sich wie Spermien in die Bühnen-Vagina ergießen müssen, behalten die Sänger noch ihre Würde.

„Tristan“ wird bis 4.7. gespielt, „Idomeneo“ bis 26.7. Infos: www.glyndebourne.com

Shirley Apthorp

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