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Kaum Verbündete. Diana (Kristen Stewart) und Kammerzofe Maggie (Sally Hawkins) während einer Kleideranprobe.

© Pablo Larraín, DCM

Kultur: Königin der Schmerzen

Verteidigung der inneren Freiheit: Kristen Stewart spielt in „Spencer“ eine Prinzessin Diana im royalen Korsett.

Von Andreas Busche

Glück und Zufriedenheit werden bei den Windsors in Pfund bemessen. In der Eingangshalle des königlichen Landsitzes Sandringham steht eine alte Balkenwaage, auf die sich die Gäste der jährlichen Weihnachtsfeierlichkeiten bei Ankunft und Abfahrt zu setzen haben. Die Queen wacht streng über diese 150-jährige Tradition. Eine Gewichtszunahme von drei Pfund gilt als „Beweis“, dass die Gäste über die Feiertage auf ihre Kosten gekommen sind. Bestimmt erklärt der neue Hausangestellte der wie immer verspäteten Prinzessin Diana: „Niemand steht über der Tradition.“ Die Augen verdrehend, setzt sie sich auf die Waage: „Klar, wir haben Spaß. Ich tue, was ich kann. Aber ich verspreche nichts!“

Die Wiege-Zeremonie in Pablo Larraíns Biopic „Spencer“ klingt wie ein netter Drehbucheinfall von Autor Steven Knight, sie gehört jedoch zu den zahlreichen seltsamen Traditionen, an denen das englische Königshaus zum Teil bis heute festhält. Eine andere war einst die „Sandringham- Zeit“: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts liefen die Uhren auf dem Anwesen im ländlichen Norfolk noch eine halbe Stunde schneller als im restlichen Königreich, um der Jagdgesellschaft im Winter länger Tageslicht zu spenden.

Die Prinzessin von Wales könnte so einen Zeitvorsprung selbst gut gebrauchen, sie ist notorisch zu spät. Am Anfang von „Spencer“ steuert sie ihr Porsche Cabrio ziellos durch pastorale Felder und Wiesen, um schließlich in einem Gasthaus, im grün-rot-karierten Blazer mit Chanel-Handtasche, die perplexen Gäste nach dem Weg zu fragen: „Wo bin ich?“

Die Frage, von Kristen Stewart mit gespielter Verzweiflung intoniert, hallt durch Larraíns Film wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Sie ist angesichts unseres umfassenden Wissens um Leben und Tod von Diana Spencer, 25 Jahre nach ihrem fatalen Autounfall, vielleicht eine Spur zu selbstreferenziell. Doch so plakativ wie bei Stewarts erstem Auftritt werden Larraín und Knight in den folgenden knapp zwei Stunden nicht mehr. „Spencer“ spielt mit den Bildern und Mythen, die Diana umgeben, die sie teilweise sogar selbst in die Welt gesetzt hat. Der Regisseur und sein Autor geben ihnen aber immer wieder einen verblüffenden Spin.

In Stewarts famosem Schaulaufen vor der Landbevölkerung klingt noch einmal die Selbstinszenierung als „Königin der Herzen“ an, wie die Boulevardpresse die tragische Prinzessin nach ihrem Tod taufte. Diana Spencer wusste früh die Medienöffentlichkeit zu handhaben. 1983 wurde die sechswöchige Commonwealth-Werbetour durch das abtrünnige Australien ein persönlicher Triumph, das Volk lag ihr endgültig zu Füßen. Die Netflix-Serie „The Crown“ widmet dieser Reise eine ganze Episode, um zu zeigen, wie die Popularität der damals 22-jährigen Diana unter den „einfachen Leuten“ bald zu Eifersüchteleien zwischen den frisch Verheirateten führte.

„Spencer“, angesiedelt an jenen Weihnachtstagen im Jahr 1991, an denen Prinzessin Diana beschloss, ihren Mann Charles zu verlassen, reicht eine einzige Szene, um diese Volksnähe zu kommentieren. Als ambivalente Herrschaftsgeste (Porsche plus Chanel) in unmittelbarer Nachbarschaft ihres Geburtshauses. Die adligen Spencers residierten über Generationen direkt neben Sandringham; nun steht das verbarrikadierte Familienanwesen auf einer nebligen Wiese in Fußweite der Königsresidenz leer. Ein Spukschloss. Diana kehrt ein letztes Mal an den Geburtsort zurück, um ihren Familiennamen für sich zu reklamieren.

„Spencer“ ist nach „Jackie“, mit Natalie Portman als JFK-Witwe, und dem Rabenmutter-Drama „Ema“ über eine flammenspeiende, sex-positive Reggaeton-Tänzerin das dritte konventionensprengende Frauenporträt des chilenischen Regisseurs. Doch anders als mit der ikonischen und längst historisierten First Lady steht Larraín bei „Spencer“ in Konkurrenz mit zeitgenössischen Darstellungen. Die Ikone Diana ist im Pop-Gedächtnis weiterhin präsent. Erst im vergangenen Mai veröffentlichte die BBC ihren Untersuchungsbericht, in dem die britische Institution kleinlaut feststellte, dass der Journalist Martin Bashir 1995 Diana Spencer mit gefälschten Dokumenten zu ihrem berühmt-berüchtigten Enthüllungsinterview überredete.

Und dann ist da natürlich „The Crown“, die in der vierten Staffel den Crossover von Windsor-Seifenoper und „Pop Britannia“ vollzieht – mit Margaret Thatcher als Zielscheibe für die Punk-Bewegung und den „New Romantics“ als Soundtrack für die depressive Prinzessin. Zu diesen Bildern müsste sich ein Regisseur irgendwie verhalten. Pablo Larraín und seine Star Kristen Stewart ignorieren sie einfach.

„Ein Märchen nach einer wahren Tragödie“ nennt der Regisseur seinen Film, was auch dahin gehend zutreffend ist, als es in „Spencer“ nicht nur um Prinz, Prinzessin und eine böse Schwiegermutter geht – sondern auch ein verwunschenes Schloss die Hauptrolle spielt. Bei einem nächtlichen Ausflug in das Haus ihrer Kindheit erscheint Diana der Geist von Anne Boleyn, der zweiten Ehefrau von Heinrich VIII., die ihr Mann 1542 nach einem vermeintlichen Ehebruch enthaupten ließ. Diana und Anne, deren Biografie der Prinzessin als beunruhigende Bettlektüre dient, sind Schwestern im Geiste: Diplomatinnen mit zunehmend politischem Einfluss, aber wenig Rückhalt in der Königsfamilie, die beide unter der Untreue ihrer Gatten leiden. Anne Boylens Motto lautete zu Lebzeiten: „The Most Happy“. Eine Lektion, die Diana gerade erst zu lernen beginnt.

„Spencer“ fühlt sich mitunter tatsächlich wie ein Horrormärchen an, eingefangen in pastelligen Tönen, über die sich ein unwirklich milchiger Schleier legt. Claire Mathon hat schon mit den Regisseurinnen Céline Sciamma und Mati Diop sehr besondere Geisterfilme gedreht, nun bewegt sich ihre Kamera traumwandlerisch durch die Sandringham-Flure, die sich mit zunehmender Dauer paranoisch verengen. Nachts steht die schlaflose Diana in der Küche und stopft Törtchen in sich hinein, die sie tagsüber auskotzt.

Die Weihnachtstage sind streng um die Mahlzeiten herum organisiert, generalstabsmäßig überwacht vom Küchenchef (Sean Harris): „Fleisch und Öl sind der Feind!“ Eine Ironie, dass ausgerechnet er, der zum Abschiedsdinner ihr Lieblingsdessert Soufflé d’Abricots zubereitet, ein Verbündeter der bulimischen Diana wird. Doch die Essstörung ist bei Larraín nicht bloß Symptom eines Krankheitsbildes. Sie fungiert auch als Abwehrreaktion gegen das royale Zeremoniell eines perfekt durchchoreografierten Heile-Welt-Weihnachtens, in dem Diana keinen Platz mehr für sich sieht.

Die Perlenkette, die Charles ihr geschenkt hat, entdeckt Diana ebenfalls an ihrer Nebenbuhlerin Camilla. Eine öffentliche Demütigung. Beim Abendessen reißt sie sich die Kette vom Hals und würgt die Perlen, die in der Suppe landen, löffelweise hinunter. Die enervierende Musik von Jonny Greenwood, der nervöse Schnitt (Sebastián Sepúlveda), alles deutet zunächst daraufhin, dass Diana langsam den Verstand verliert.

Aber „Spencer“ ist, im Gegenteil, eine Emanzipationsgeschichte. Nicht zuletzt dank einer furchtlosen Kristen Stewart, die sich ohne falschen Respekt die öffentliche Persona aneignet – und die private frei, manchmal auch frei assoziativ interpretiert. Den gepressten Sprachduktus Dianas imitiert sie noch eine Nuance in Richtung nörgeligem „Valley Girl“- Slang. Stewarts Figur ist impulsiv und verletzlich, sie verschwindet in einem Moment hinter ihren Kostümen und verwandelt sie im nächsten in einen Spiegel ihres Innenlebens.

Darin besteht vielleicht die größte Leistung Larraíns: dass er die Oberflächen genauso intelligent zu inszenieren versteht wie die Fluchtwelten Dianas, in denen der Windsor-Horror märchenhafte Qualitäten bekommt. Wenn sie sich mit William und Harry bei Kerzenschein im ungeheizten Schlafzimmer versteckt und ein Rollenspiel spielt. Oder beim Ausflug an den Strand mit Kammerzofe Maggie (Sally Hawkins), die ihr eines der schönsten Geständnisse macht, das man einer Prinzessin nur machen kann, deren Gefühle in einer lieblosen Welt langsam verkrüppeln.

Die preisgekrönte Designerin Jacqueline Durran hat Stewart, inspiriert von Dianas Lieblingslabel Chanel, ein umwerfendes Repertoire von Kostümen angefertigt, die weder bloße Staffage sind (wie in „House of Gucci“) noch einem pseudo-naturalistischen Ausstattungsfuror zum Opfer fallen (wie in „The Crown“). Bei Larraín werden sie vielmehr zu biografischen Wegmarken vergangener Lebensphasen, in denen die Zukunft der jungen Diana noch zart rosig aussah. Stewart tanzt sich in einer dreiminütigen Montagesequenz durch dieses Leben – im Hochzeitskleid, in einem kanariengelben Piratenkostüm, in Boyfriend-Jeans mit Oversize-Sweater –, um am Ende wieder als Diana Spencer aus einem Traum zu erwachen. Als Kamikazekämpferin, die sich bei der Fasanenjagd unter die hilflosen Vögel mischt, um ihre Söhne aus einem herzlosen Königreich zu befreien.

Das wichtigste Kleidungsstück in „Spencer“ stammt allerdings aus keinem Designhaus. Es ist der alte löchrige Mantel von Dianas verstorbenem Vater (tatsächlich starb Lord Spencer erst im folgenden Jahr), der an einer Vogelscheuche auf dem Feld hängt. Die Prinzessin rettet das gute Stück nach einem beherzten Marsch über den Acker in High Heels – und lässt es von Maggie flicken.

Kleidung als Träger von Erinnerungen ist eine vielleicht allzu naheliegende Metapher für eine Stilikone wie Diana, aber auch gegen dieses Klischee hat Pablo Larraín noch eine passende Schlusspointe parat. Beim Abschied von Sandringham – zu „Miracle“ von Mike & the Mechanics, dem einzigen Popsong im Film – hängt an der Vogelscheuche Dianas gelbes Piratenoutfit. Ein Zeichen der Abschreckung.

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