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Kultur: Kopfsprung in die Vergangenheit

Wolfgang Strassmann floh vor 70 Jahren nach Amerika. Jetzt erzählt er die Geschichte seiner Familie

Geplant war ein Vormittagsgespräch von maximal zwei Stunden. Doch als wir uns in der Hotellobby verabschieden, ist es bereits Zeit fürs Abendessen. In der Zeit dazwischen liegen unzählige Geschichten aus Michigan, Houston/Texas, London, Lima und Berlin und ein Spaziergang durch Berlin-Mitte. Dort, direkt neben der damaligen Straßmann’schen Frauenklinik in der Schumannstraße, in der er 1926 geboren wurde, wuchs Wolfgang Strassmann auf. Vom Dachboden des Hauses Ecke Luisenstraße sah er mit seiner Schwester den Reichstag brennen, von hier aus emigrierte die Familie 1937 in die USA. Großvater Paul Straßmann musste wenig später seine international renommierte, 1909 eingerichtete Klinik an die Charité verkaufen und zog selbst nach Dahlem. Die Emigration kam für ihn, den deutschnationalen, protestantischen Juden nicht in Frage. „Paul hätte es nicht ertragen, wenn er im Ausland schlechte Worte über Deutschland hätte hören müssen“, beschreibt der Enkel die Haltung des Großvaters.

Angefangen hat das Gespräch mit dem emeritierten Wirtschaftsprofessor bei einem bescheidenen Frühstück in der Hotelbar. Hinter Strassmann – das „ß“ im Familiennamen wurde in der Emigration zu „ss“ amerikanisiert – liegen die ersten Stationen seiner Leserreise: Bonn, Osnabrück, Hamburg und Frankfurt, vier Lesungen in fünf Tagen. Natürlich sei er aufgeregt, sagt er, schließlich habe er bis vor einer Woche noch keine Erfahrungen mit solchen „Vorträgen“ gehabt. Das Vorbild des Schriftstellers bei seiner ersten Tournee: die Anfangsszene aus Richard Linklaters Film „Before Sunset“, in der Ethan Hawke als Autor in einer Pariser Buchhandlung seine Erinnerungen präsentiert. Strassmann quält sich noch mit den Routine-Anforderungen des Literaturbetriebes. Es sei gar nicht so einfach, klagt er, die richtigen Worte zum Signieren zu finden. Ist es lieblos, wenn er dabei die gleichen Worte mehrfach benutzt? Und was wollen die Besucher einer Lesung überhaupt hören? Für ihn sei es unerträglich, wenn er sich gelangweilten Gesichtern gegenübersehe, dann beginne er, „dummes Zeug“, Anekdoten aus der Familiengeschichte, zu erzählen.

Deutschland hat er relativ kurz nach dem erzwungenen Abschied wiedergesehen. Bereits 1952 kam Strassmann auf seiner Hochzeitsreise zu Besuch nach Berlin. Seitdem ist er immer wieder an die Orte seiner Kindheit zurückgekehrt. Das Vorgespräch ist vorbei, wir sitzen im Auto und stehen auf dem Kurfürstendamm im Stau. Zeit für weitere Geschichten. Wie die von Strassmanns kindlicher Angst beim Betreten der Kronprinzessinnenbrücke auf dem täglichen Schulweg in das Hansaviertel. Stets habe er sich davor gefürchtet, in die Spree zu fallen. Denn dort lauerten nach den Erzählungen der Erwachsenen Monster. Heute weiß er es besser: „Die Geschichten der Erwachsenen sind entweder grausam oder erlogen – meist beides.“ So auch die vom Kohlenträger als Buhmann – wider besseres Wissen weckt der Geruch von Kohlenstaub dennoch bis heute unangenehme Gefühle in ihm. Der Geruch von trockenen Geranienblättern versetzt ihn dagegen immer noch in die Sommeridylle des elterlichen Balkons.

Die Vielfalt der Familienanekdoten hat Strassmann irgendwann misstrauisch gemacht. Deshalb begann er nach der Pensionierung, sich intensiv mit seinen Vorfahren zu beschäftigen. Die Helden seines nun erschienenen Buches (vgl. Rezension im Tagesspiegel vom 22. Mai) sind vor allem sein Großvater Paul und seine Tante Antonie, eine Theaterschauspieler, die später eine der ersten deutschen Pilotinnen wurde. Diese Tante Antonie muss man sich als Abenteuerin vorstellen. Einen späteren Manager, erzählt der Neffe, habe sie in den zwanziger Jahren derart beeindruckt, dass er sich noch ein halbes Jahrhundert danach lebhaft an sie erinnerte: Sie sprang bei einem Ausflug in den Titisee – per Kopfsprung von der Brüstung des Hotelbalkons.

In der Schumannstraße angekommen, sehen wir uns den Eingangsbereich der ehemaligen Frauenklinik an, in der sich auch die Privatwohnung der Familie Straßmann befand. Heute residieren hier Immobilienmakler. In der Tordurchfahrt stand einst eine Skulptur, die Strassmanns im Ersten Weltkrieg gestorbenen Großonkel Hellmuth als Soldaten zeigte, und gegenüber eine Büste von Gerhart Hauptmann, einem guten Freund des Hausherrn. Die Initialen „PS“, die sich über dem Eingang in einem Wappen um den Äskulapstab verschränkten, sind verschwunden.

Auf der Fischerinsel, direkt am Museumshafen entdecken wir eine riesige Kastanie. Ob das der Baum ist, unter dem schon der Großvater als Kind spielte? Strassmann spricht einen Angler an, der oft hier sitzt. Der Mann ist sich sicher: Diese Kastanie steht hier seit über 200 Jahren, ungeachtet aller Ereignisse, die um sie herum geschehen sind. Vor Wolfgang Strassmann liegen noch aufregende Tage in Berlin, nicht zuletzt die Präsentation seines Buches im Centrum Judaicum. Gespannt ist er auf die Fragen, die dieses Mal gestellt werden. Auf den bisherigen Stationen habe er sich auf Antonies Motto verlassen können: „Gehirn ausgeschaltet, Schnauze läuft mit.“ Das gilt auch für die Frage nach seiner Identität: „Ich bin“, sagt Strassmann, „ein Berliner“.

Wolfgang Paul Strassmann liest am Dienstag um 19 Uhr im Centrum Judaicum (Oranienburger Str. 28/30) aus seinem Buch „Die Strassmanns. Schicksale einer deutsch-jüdischen Familie über zwei Jahrhunderte“ (Campus, 376 S., 24,90€).

Elke Kimmel

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