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Kultur: Kreis sucht Kubus

Eine großartige Ausstellung brasilianischer Kunst in der Berliner Akademie der Künste

Es war einmal ein schwarzes Quadrat, das keine Lust mehr hatte, am Gängelband seines Herrchens Malewitsch zu spazieren. Es riss sich los, floh quer durch Europa und schwamm nach Brasilien. Aber oh weh, das arme Quadrat wurde auch dort ziemlich kurz gehalten. Bis plötzlich ein paar Aktivisten das Geschöpf von der Leine nahmen. Freiheit! jauchzte das Quadrat. Und lernte fortan viele kennen, denen es ähnlich ergangen war: den Kreis, das Dreieck und den Kubus.

Ein bisschen märchenhaft ist sie schon, die Geschichte des „Neoconcretismo“ in Brasilien. Nur komplizierter als ein Märchen. Eine großartige Ausstellung der Akademie der Künste erklärt nun das Was, Wie und Warum dieser anderen Moderne. Ohne Rücksicht auf Chronologie wird der Besucher mitten hineingestoßen in die Installation herausragender Stücke einer Kunstströmung, die sich Ende der fünfziger Jahre herausbildete. Reliefs von Hélio Oiticica schweben wie Flugobjekte frei im Raum. Auf einem Monitor tanzen Quader und zylindrische Formen das „Neokonkrete Ballett“ der Künstlerin Lygia Pape. Die „Bichos“ ihrer Namensvetterin Lygia Clark sind in einer Vitrine zu bestaunen, obwohl sie eigentlich benutzt werden müssten: Ab 1960 verband Clark Metalldreiecke und andere geometrische Formen mittels Scharnieren zu „Kreaturen“, die auf eine Veränderung ihres Klappkörpers eigenwillig „reagierten“. Welche Bewegungsvarianten es gibt? „Ich weiß es nicht, Sie wissen es nicht“, pflegte die Künstlerin zu antworten, „aber es weiß es“.

So ein „Bicho“ kann als Paradebeispiel für den Neokonkretismus dienen, der in der Formensprache des russischen Konstruktivismus wurzelt: Die Geometrie klappt, rollt und fliegt in den Raum. Mindestens vibriert sie auf dem Blatt. Der Betrachter wird zum Benutzer befördert. Und wie von Urwaldgeistern belebt, mutiert das künstlerische Objekt zum Subjekt, zum Wesen, das aus der Reihe tanzt. Das Rechteck lebt. Auf Oiticicas „Metaesquema“-Gouachen tanzt es Samba. Wir tanzen mit, wo Willys de Castros „Aktive Objekte“ unser Sehen in Bewegung versetzen. Dieser „Animismus“ steht quer zur europäischen Auffassung. Wohl kein Zufall, dass der Ausstellungstitel „O Desejo da Forma“ falsch übersetzt wurde. Statt „Das Verlangen nach Form“ müsste es „Das Verlangen DER Form“ heißen.

Das Herzstück der Ausstellung bilden Exponate zu Brasilia. Wer die Modelle und Zeichnungen des Hauptstadt-Architekten Oscar Niemeyer betrachtet, die geschwungenen Linien und die skulpturale Gesamtanlage, ahnt vielleicht, warum. Das plastische, fast verspielte Brasilia-Konzept rieb sich am Rationalismus des Schweizer Künstlers Max Bill, der zeitweilig großen Einfluss auf die brasilianische Kultur hatte. Die Kunststadt im Urwald aber wurde zum Fanal. Vom staatlich geförderten Konkretismus spaltete sich der Neokonkretismus ab. Die Tage kalter Perfektion waren gezählt.

„Desafinado“, verstimmt, heißt ein Bossa-Nova-Lied von Antonio Carlos Jobim. Und ähnlich „out of tune“ sind die Bilder der Sechziger-Jahre-Avantgarde. Aluísio Carvão schuf Farbfeldmalereien in schlammigen Tönen, die einen Richard Paul Lohse in die Flucht getrieben hätten. Doch die Brasilianer liebten es eben, das Unvollkommene, Angeschrägte, Eingetrübte.

Vom Materialaspekt her bieten die zeitgenössischen Werke in der Ausstellung ein Kontrastprogramm. Mit coolem Polykarbonat und Edelstahl arbeitet die Künstlerin Iole de Freitas, die Entdeckung der letzten Documenta. Die Akademie zeigt ein frühes Beispiel ihrer im Raum schlingernden Transparentwände. Aber dieses Spiel mit Raum und Betrachter nimmt doch den Faden des Neokonkretismus auf, und so verhält es sich auch bei Carlos Bevilacqua, Waltercio Caldas und Pablo Lobato. Von fragiler Poesie ist die Skulptur „Verso“ von Carla Guagliardi. Auf großen weißen Ballons lehnen Holzlatten, überkreuzt, auf zwei Ebenen, in heikler Balance. „Luft“ und „Zeit“ sind als Materialien ausgewiesen. Wenn mit der Zeit die Luft entweicht, wird das Werk sich verändern. Keiner weiß, wie. Aber „es“ weiß es vielleicht.

Akademie der Künste, bis 7. November, Di-So 11-20 Uhr

Jens Hinrichsen

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