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Kultur: Kreuzzug gegen Krankheit: Wie Europa die Gesundheit eroberte - eine Geschichten der Professionalisierung der Medizin

Krank zu sein, war sicherlich zu keiner Zeit der Geschichte eine Freude, doch besonders bemitleidenswert erscheinen die Menschen, die sich vor der uns heute bekannten Medizin in Europa in "Behandlung" begeben mussten: Noch im 18. Jahrhundert zählten trotz erster naturwissenschaftlicher Entdeckungen Methoden wie Diät, Aderlass oder "Ausräuchern" zur gängigen Therapie der bekannten Krankheiten.

Krank zu sein, war sicherlich zu keiner Zeit der Geschichte eine Freude, doch besonders bemitleidenswert erscheinen die Menschen, die sich vor der uns heute bekannten Medizin in Europa in "Behandlung" begeben mussten: Noch im 18. Jahrhundert zählten trotz erster naturwissenschaftlicher Entdeckungen Methoden wie Diät, Aderlass oder "Ausräuchern" zur gängigen Therapie der bekannten Krankheiten. Wie sich die medizinische Wissenschaft von diesem Zeitpunkt bis zur Entdeckung der Röntgenstrahlen 1895 entwickelte, hat jetzt die französische Historikerin Calixte Hudemann-Simon beschrieben.

Im ersten Teil ihrer Darstellung geht die Autorin zunächst auf die Professionalisierung der Ärzte ein, die sich in allen europäischen Ländern an der Schwelle zur Industrialisierung beobachten lässt. Zu dieser Entwicklung zählte neben der Ausschaltung von Kurpfuschern und selbsternannten "Heilern" die Herausbildung einer standardisierten wissenschaftlichen Ausbildung der Mediziner. Eine der wesentlichen Errungenschaften war die schrittweise Vereinigung der getrennt auftretenden Bereiche Medizin und Chirurgie.

In der Praxis hatten vor allem die jungen Ärzte allerdings das Problem, überhaupt an - zahlungskräftige - Patienten heranzukommen. Die Gründung einer Praxis war teuer, manche gingen den schweren Weg eines Landarztes. Dieser kümmerten sich vor allem um die Armen - die Reichen ließen sich lieber in der Stadt behandeln - und blieb deshalb zumeist selbst "bis ans Ende seiner Tage ein armer Mann".

In den Städten machten sich die Ärzte indes gegenseitig Konkurrenz. Ihre bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts formulierte Klage über die "Überfüllung" ihres Berufsstandes war somit in Wirklichkeit vorrangig das Ergebnis der ungleichen Verteilung der Mediziner.

Neben der Professionalisierung des Ärztestandes betrachtet Hudemann-Simon im zweiten Teil ihrer Studie ausführlich die Entstehung einer öffentlichen Gesundheitspolitik. Dazu zählt sie vor allem das Krankenhauswesen, bei dem der Übergang vom Hospiz (der Fürsorgeeinrichtung für Alte und Sieche, Waisen und Geisteskranke) zum eigentlichen "Kranken"-haus (wo zunehmend die Betreuung der heilbaren Kranken im Vordergrund stand) entscheidend war. Es entstanden Lehrkliniken und Laboratorien, in denen alle Medizinstudenten eine Ausbildung durchlaufen mussten. Gleichwohl war der Alltag der Kranken von heutigen Erfahrungen weit entfernt: Gemeinschaftssäle waren die Regel, die Luft häufig verpestet und Infektionen an der Tagesordnung, "so dass der Krankenhausaufenthalt mehr Kranke schuf als heilte".

Vermehrt nahmen sich die europäischen Staaten der gesundheitspolitischen und vorbeugenden Aufgaben an. "Unter philantrophischen ebenso wie unter ökonomischen und militärischen Rücksichten galt der Erhalt der menschlichen Gattung als vordringliches Ziel", so Hudemann-Simon. Daraus resultierte die Förderung der öffentlichen und privaten Hygiene (die Autorin erinnert vor allem an die Erfahrungen mit der Cholera), der Zugang der gesamten Gesellschaft zur medizinischen Behandlung, der Aufbau von Krankenkassen und -versicherungen sowie die dringend notwendige Professionalisierung der Hebamme, um dem "Massaker an den unschuldigen Kindern" durch unfähige Helfer ein Ende zu bereiten.

Als entscheidendes Element für "den Weg zur Eroberung der öffentlichen und privaten Gesundheit" in Europa bewertet die Autorin die Rolle des Staates: Es habe den Anschein, "dass das Engagement oder die Autorität des Staates nicht nur unverzichtbar, sondern überhaupt ein wichtiger Triumph im Kreuzzug für die Volksgesundheit war". Hierbei hebt sie vor allem Deutschland hervor, wo der Staat notfalls Zwangsmaßnahmen ergriff, sei es nun bei der Pockenimpfung oder der bismarckschen Sozialversicherung.

Doch Hudemann-Simon stimmt nicht kritiklos das hohe Lied des Staates an. Dessen Autorität, die im 19. Jahrhundert für das öffentliche Gesundheitswesen in den Dienst einer guten Sache gestellt wurde, habe auch zu perversen Auswüchsen geführt: Das Dritte Reich, das dieses Feld missbrauchte, habe dafür den Beweis geliefert.

Tillmann Bendikowski

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