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"Wut" im Fernsehen

© dpa

Kriminalität: Tolerierte Täter

Die aktuelle Debatte: Alle reden von Jugendgewalt und minderjährigen Delinquenten. Doch elterliche Brutalität in den vier Wänden ist tabu. Eine öffentliche Diskussion darüber findet bisher nicht statt. Doch Alltagsbeispiele gibt es viele.

Von Caroline Fetscher

Ja, hier im Land herrscht eine skandalöse Toleranz gegenüber Gewalttätern. Da hat Hessens Ministerpräsident Roland Koch im Prinzip ganz recht. Doch hat Koch die Falschen im Visier. Hunderttausende brechen bei uns tagtäglich das Gesetz. Sie schlagen zu mit Gürteln, Stöcken und Ruten, mit hölzernen Teigrollstäben, mit den Sohlen von Schuhen, mit Kleiderbügeln, mit bloßen Handflächen oder mit der Faust. Manche prügeln spontan, erratisch, eruptiv, andere systematisch, rituell und gewohnheitsmäßig. Ihre Taten finden im Verborgenen statt, im privaten Raum. Weder Überwachungskamera noch Behörden bekommen das akute Geschehen zu Gesicht. Wachleute in U-Bahnen richten nichts gegen sie aus.

Die Geschlagenen sind jung. Es sind Minderjährige: Kleinkinder, Kindergartenkinder, Schulkinder. „Du Opfer!“ ist nicht zufällig das derzeit bevorzugte Schimpfwort auf den Schulhöfen urbaner Ballungsgebiete. Die Täter sind Väter und Mütter, mitunter auch Onkel oder Großeltern. Die Tatsachen sind bekannt und statistisch erfasst. Die Quellen der meist elterlichen Misshandlungen sind vielfältig. Geschlagen wird aus Frustration und Überforderung, um „Moral“, „Ehre“ oder „Gehorsam“ zu lehren, aus Haltlosigkeit, Grausamkeit, Unsicherheit oder emotionaler Not. Traditionelle Autoritätskonzepte, ein alarmierendes Empathie-Vakuum angesichts von Kindern zeichnen die Täter aus. Bei alledem fühlen sie sich im Recht, da sie Sinn und Inhalt des Gesetzes, wonach Kinder das "Recht auf gewaltfreie Erziehung“ haben, nicht kennen oder nicht akzeptieren.

Ja, es stimmt, viele der Gewalttäter sind Migranten, die aus armen Regionen, aus Anatolien oder Russland, hierher kamen, oder weil Kriege und Bürgerkriege wie in Ex-Jugoslawien und im Libanon sie vertrieben haben. Etwa die Hälfte aller türkischen Jungen und Mädchen gaben in Repräsentativumfragen an, Gewalt im Elternhaus zu erleben. Neben dieser Gruppe haben auch etwa zehn bis fünfzehn Prozent der „bildungsfernen“ Deutschen nichts gegen Eindreschen auf Kinder, und Protest hört man schon gar nicht von Rechtsradikalen, in deren Weltbild das Draufschlagen per definitionem einen Platz hat. Kinder, die in solchen elterlichen Mikro-Diktaturen leben, passen sich erst an, später zeigen sie heftige Reaktionen. Jungen werden eher aggressiv, Mädchen eher depressiv. Wo aber bleibt hier das Gesetz? Diskret, geradezu im Verborgenen, solle wirken, wünschen sich Fachleute, es soll auf „Freiwilligkeit“ und „Einsicht“ bei den Eltern setzen.

So erlebte das unlängst ein Berliner Ehepaar, nennen wir sie die Jakobs. Sie hatten erfahren, dass ihre migrantischen Nachbarn, unauffällige Leute in Lohn und Brot, drei kleine Kinder mit Rohrstock und Ohrfeigen „erziehen“. Der Achtjährige hatte geredet, zufällig, auf dem Hausflur, hastig, in Angst. Die Jakobs fragten Bekannte, darunter Pädagogen, Psychologen, wie sie den Eltern das deutsche Gesetz erklären sollten. Entsetzte Aufschreie waren die Antwort: „Erwähnen Sie bloß nicht das Gesetz! Kriminalisieren Sie nicht die Eltern! So kommt ihr nicht an die Leute ran!“ Man solle es mit Einfühlung versuchen, mit sanftem Überreden. Die Nachbarn amüsieren sich über diese deutsche Gefühlsduselei, während ihre ungesetzliche Prügelpraxis weitergeht. Bei ihnen und in hunderttausenden anderer Haushalte. Werden die mit einer Mischung aus Schlägen, Süßigkeiten und Trash-Fernsehen „erzogenen“ Kinder eines Tages kriminell, raufen sich ihre Eltern die Haare und seufzen, da fehle nur „mehr Härte!“ Als sei zuvor nichts geschehen.

Auch Koch, Gauweiler und Co. sprechen so, als seien die jungen Kriminellen mit ihren Rohheitsdelikten plötzlich irgendwelchen Ufos entstiegen. Schlagende Eltern lässt man ungehindert das Gesetz brechen, denkt aber laut über Haftanstalten für Kinder unter vierzehn nach, Erwachsenen-Strafvollzug für Jugendliche und Erziehungs-Camps. Grotesk ist es, dass angesichts massiver Straftaten von Erwachsenen gegen unmündige Mitbürger (man stelle sich vor, es wären Rentner!), genau die Kuschel-Rhetorik verwendet wird, die eine argwöhnische Allianz aus konservativen Rechtsstaatlern bei den „allzu milden“ Jugendrichtern vermutet. Dabei bringen schlagende Eltern den Kindern bei, dass die Missachtung des Anderen akzeptabel ist. Gewalttätige Eltern verstoßen aktiv gegen Paragraph 1631 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches, dessen Neufassung gegen Jahrzehnte des massiven Widerstands aus konservativen Parteien im November 2000 unter Rot-Grün verabschiedet wurde. Der volle Text lautet: „Kinder haben das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Warum fehlt bei uns eine offene Dauerkampagne für Sinn und Inhalt dieses Gesetzes? Warum gibt es keine gezielte Aufklärung darüber, auch auf Russisch, Türkisch, Arabisch, Bosnisch, Serbisch? Warum wird toleriert, dass Eltern das Gesetz missachten? Sind diese Eltern in den Augen der Politik und der Sozialarbeiter etwa infantiler als die Sprösslinge? Ist das Prügeln der bloßen Haut eines Vierjährigen mit einem Gürtel oder Stock weniger verwerflich als das Einschlagen auf einen Rentner mit der Faust?

Dümmer, krasser als in der gegenwärtigen Debatte um das Strafrecht kann man die Welt kaum auf den Kopf stellen. Auf der linken Seite dominiert hochnervöse multikulturelle Rücksicht gegenüber „traditionell eingestellten“ Migranten-Eltern. Auf der rechten Seite regiert eine Art stiller Restzufriedenheit mit jenen Migranten, die immerhin wenigstens ein herkömmliches Autoritätskonzept aufweisen. Beide Seiten gehen – ungewollt – ein schräges Bündnis miteinander ein, das dem Kindeswohl schadet, das latent inhuman, offen rechtsfeindlich ist, und teils konkret rassistisch. Wolfgang Bergmann, Psychotherapeut, ließ kürzlich in der „Welt“ verlauten: „In türkischen und vielen russischen Familien (…) greifen die Väter, manchmal die älteren Brüder, zu einer harten patriarchalisch getönten Disziplin, sehr oft mit Körperstrafen, die deutschen Pädagogen wie schwere Misshandlungen vorkommen.“ Klarer Rassismus: Was die meisten Deutschen heute ablehnen, das ist russischen oder türkischen Kindern zuzumuten, die offensichtlich dickfelliger sind als „unsere“ Kinder. Die Schamlosigkeit einer solchen Behauptung fällt kaum auf, und das ist symptomatisch. Klug erkannte Regina Mönch vor ein paar Tagen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Die prügelnden Väter türkischer und arabischer Straftäter spielen in dem nun klarer werdenden Bild von verfehlter Kindheit und Jugend fast nie eine Rolle. Doch regelmäßige schwere Züchtigung mit Fäusten und Geräten sind in diesem Milieu keine Seltenheit. Eine deutsche Familie hätte längst Sanktionen zu befürchten. Wer diese Mittel bei Migranten, aus welchen Gründen auch immer, nicht anwendet, befördert die bisherige Spirale der Gewalt. Vor allem aber versagt er zehntausenden Kindern den Schutz, den ihnen das Gesetz zusichert.“

Es sei doch ihr „eigenes Fleisch und Blut“, erklären die Eltern, womit sie machen dürften, was ihnen passt. So bleiben die allermeisten Fälle ungeahndet, obwohl solche Taten, gerichtet gegen einen Erwachsenen, schnurstracks strafrechtliche Konsequenzen hätten. Was sich da vor unseren Augen und Ohren ereignet, ist ein kulturpolitisches, ein rechtspolitisches Fiasko. Woher die absurde Scheu davor, konsequent und kompromisslos prügelnde Eltern zu kriminalisieren, ihnen – und den Kindern! – Sinn und Inhalt des geltenden Gesetzes nahe zu bringen? Geschützt werden durch solche „Rücksicht“ vor allem die Politiker und Helfer, die sich vor der aggressiven Konfrontation mit den Eltern fürchten. Doch die Gesellschaft wird um diese Konfrontation nicht herumkommen, will sie ALLEN Kindern und Jugendlichen echte Chancen geben, Rechte und Menschenwürde.

Tatsache ist: In Deutschland gab es bisher keine breite Offensive zur Vorstellung des neuen Paragraphen, die auch nur annähernd etwa mit der enorm erfolgreichen schwedischen Kampagne für gewaltfreie Erziehung ab 1979 verglichen werden kann. In Schweden ließ das Justizministerium zum Auftakt der Kampagne acht Wochen lang auf jede Milchtüte den Text des neuen Gesetzes aufdrucken. Jeder Haushalt mit Kindern wurde einzeln angeschrieben. In den Sprachen aller Migranten wurde das Gesetz ausführlich erklärt. Zwei Jahre später kannten 98 Prozent der Bevölkerung das Gesetz, auch die Migranten. Für Deutschland wäre es längst an der Zeit, wenigstens verspätet eine solche Initiative zu starten. Ihre Hilfe anbieten sollten dabei auch Großkonzerne, deren Produkte sich vor allem an Kinder und Eltern richten: MacDonalds und Müller-Milch, Haribo, Coca-Cola und Milka-Schokolade, private Fernsehsender. Sie wären idealere Promoter als die Broschüren, die auf den Inforegalen der Einwohnermeldeämter vergilben. Erzieher in Kindergärten und Lehrer an den Schulen sollten zudem direkt und aktiv über das Gesetz aufklären. Auf Türkisch und Arabisch, auf Bosnisch und Serbisch. Aber auch, immer wieder, auf Deutsch. Dann beginnt auch die Fraktion Koch zu begreifen, dass es dieses Gesetz tatsächlich gibt.

Internet:
EU-Kampagne für gewaltfreie Erziehung
Globale Initiative gegen Gewalt an Kindern

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