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Kultur: Krücken der Erinnerung

Marius von Mayenburgs „Der Stein“ in der Berliner Schaubühne

„Mein Großvater ist für mich ein Vorbild“, spricht Teenie Hannah (Elzemarieke de Vos) mit weit aufgerissenen Augen ins Publikum, „weil er zu seinen Freunden gehalten hat und dafür von den Nazis verfolgt wurde.“ So viel unbedarfte Kulleräugigkeit kann unmöglich Recht behalten im seriösen Gegenwartsdrama. Schon gar nicht, wenn es um die deutsche Geschichte geht.

Von Opas Heldenepos wird also nach anderthalb Stunden erwartungsgemäß nichts übrig bleiben in Marius von Mayenburgs Stück „Der Stein“. Das jüdische Paar, dessen Flucht der vermeintliche Widerständler Wolfgang Heising qua Hauskauf heroisch finanziert haben soll, endete mitnichten – wie die Familienlegende will – in der New Yorker Kunstszene, sondern im Konzentrationslager. Denn in Wahrheit trug Herr Heising das Parteiabzeichen am Revers und ließ seine Frau, nachdem er besagte Dresdner Villa im Jahr 1935 weit unter Wert erworben hatte, wegen des „Judengeruchs“ erst einmal ordentlich durchlüften. Zudem profitierte der feige Nazidiktaturgewinnler, der sich im Mai 1945 mit einem letzten „Heil Hitler!“ den Kopfschuss gibt und von Kay Bartholomäus Schulze auch überdeutlich so gespielt wird, noch auf der Karriereleiter von seiner vermeintlichen Fluchthilfe.

„Der Stein“ – eine Koproduktion der Schaubühne mit den Salzburger Festspielen, die nach der dortigen Uraufführung im Juli jetzt zur Berlin-Premiere kam – verdichtet sechzig Jahre deutscher Geschichte in einem Familiendrama. 1953 flüchtet Heisings Frau Witha mitsamt Tochter Heidrun aus Dresden in den Westen. Als sie nach der Wende 1993 – dem Jahr, in dem das Stück einsetzt – zurückkehren, werden sie nicht nur vom Mythengespinst um den Gatten und Vater heimgesucht, sondern auch von einem strammen Schritts dem Klischeebilderbuch entstiegenen Ostkind: Stefanie musste mit ihrem inzwischen aus Gram verstorbenen Großvater die Villa wegen der Rückkehr der Heisings räumen und klagt jetzt in arbeiter- und bauernstaatlichen Gummistiefeln auf Entschädigung durch fünfzehn Tafeln Westschokolade.

An der mal besser, mal schlechter zu ertragenden Stereotypenhaftigkeit seines Personals krankt Marius von Mayenburgs well made play, das handwerklich geschickt zwischen den Jahrzehnten springt, leider offenkundig. Das ist umso bedauerlicher, als der Dramatiker sich mit seinem Kniff, das deutsche Geschichtspanorama in einer Familiengeschichte zu verdichten, selbst schon vom Druck des Pädagogisch-Exemplarischen befreit und beste Voraussetzungen für individuelle Figuren geschaffen hatte.

Zum Unglück des Autors (und des Publikums) steuert der Regisseur Ingo Berg den Stereotypen in seiner Inszenierung dann nicht ansatzweise entgegen, sondern malt sie im Gegenteil dick und betulich aus. Das beginnt schon bei Damian Hitz’ Bühne und hört bei Marysol del Castillos Biederfrauen-Kostümen leider nicht auf. Zwischen Kaffeetafel und Rhododendronbusch haben die Schauspielerinnen wenig Chancen auf differenzierte Darstellung. Judith Engel gibt die Opportunistin Witha im Edelpelz und Eva Meckbach die zur Flucht gezwungene Jüdin zwischen Wut und Melancholie.

Withas Tochter Heidrun (Bettina Hoppe) wirkt in ihrem graumäusigen Kostümröckchen wie die Reinkarnation der Fünfziger-Jahre-Hausfrau, deren Schmallippigkeit indes nur allzu verständlich ist, wenn man sieht, wie viel in dieser Familie unter den nicht vorhandenen Teppich gekehrt wurde: Das Salon-Parkett hat über die Jahre hügelgroße Beulen ausgebildet. Mit solchen platten Bildern bekommt man die mythischen Krücken der Nachgeborenen, von denen das Stück handelt, nicht in den Griff.

Wieder am 6., 28. und 29.10., 20 Uhr.

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