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Kultur: Kühe sind sensible Zuschauer

Martin Lüttge spielt Jacob Grimm. Ein Besuch am Schöneberger Grab der Märchen-Brüder

Die Kapelle links liegen lassen, den Hügel hinauf und dann, fast schon am Ende des St. Matthäus-Friedhofs, einmal rechts abbiegen: Dort liegen sie. Auf den wuchtigen, sich pyramidal verjüngenden Marmorgrabsteinen sind nur die Namen und Lebensdaten angegeben: „Wilhelm Grimm, Geb. 24. Februar 1786, Gest. 16. Februar 1859“, „Jacob Grimm, Geb. 4. Januar 1785, Gest. 20. September 1863.“

„Das ist flott alt für die damalige Zeit“, sagt Martin Lüttge. „Und bis ans Ende noch am Deutschen Wörterbuch gerackert!“ Ein Moment andächtigen Schweigens schließt sich an, der vom Quietschen einer vorbeiruckelnden S-Bahn beendet wird. „Kein Kreuz auf dem Grabstein“, grummelt Lüttge. „Übermäßig christlich waren die ja nicht.“ Die letzte Ruhestätte der Brüder Grimm auf dem Friedhof an der Schöneberger Großgörschenstraße ist, darauf weist ein Schild hin, ein Ehrengrab des Landes Berlin. Marlene Breitinger, Lüttges Ehefrau und Bühnenpartnerin, liest einen Text von der Infosäule neben dem Grab vor. „Wir lebten immer unter einem Dache. Auch unsere letzten Betten werden wieder dicht beieinander liegen.“ Jacobs Trauerrede für Wilhelm. „In seinem Testament hat Jacob verfügt, dass er links neben Wilhelm beigesetzt werden möchte“, sagt Lüttge. „Und jetzt sehe ich endlich, dass es so auch geschehen ist!“

Seltsam, findet Martin Lüttge selber, dass er erst jetzt dazu gekommen ist, die Grimm-Gräber zu besuchen. Dabei spielt er den Jacob Grimm schon seit sechs Jahren, mit der Theaterproduktion „Brüder Grimm“, die nun im Glashaus der Arena gastiert, war er bereits in Finnland, Bulgarien und Polen. „In Estland auch!“, ergänzt Marlene Breitinger, die immer dabei gewesen ist, als Darstellerin jener Dorothea „Dortchen“ Grimm, die mit Wilhelm verheiratet war, sich aber um beide Brüder kümmerte. Die Brüder Grimm, das ist ein deutsches Drama, ein biografisches Spiel über zwei Geistesgrößen, die sich in ihren Büchern vergraben wollen, aber vom Rumor der Zeiten – Vormärz, Rauswurf an der Göttinger Universität, 48er-Revolution – immer wieder fortgerissen werden.

„Ihr Großes war ganz nach innen gekehrt“, sagt Lüttge. Auf das Thema war er gestoßen, als er in Steinau an der Straße Theater spielte, wo die Grimms ihre Kindheit verbrachten. Weil kein geeignetes Stück über sie existierte, gab er eines in Auftrag. Den Gelehrten fühlt sich der Schauspieler nahe, für ihn sind sie Vorbilder, die „Brüderlichkeit, Verlässlichkeit, zwischenmenschliche Werte“ vermitteln. Im Taxi, das von der Treptower Bühne zum Schöneberger Friedhof fährt, deklamiert Lüttge die Zeilen, die Jacob Grimm für die Präambel der Paulskirchen-Verfassung schrieb: „Deutscher Boden duldet keine Knechtschaft, fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“ „Das ist toll, heute noch!“, ruft er anschließend aus. Seine Bassstimme, die man noch aus zahllosen Fernsehauftritten im Ohr hat, raunt pathetisch, begeistert blitzen die Augen im von buschigen Koteletten gerahmten Gesicht.

„Theater provoziert Auseinandersetzungen, das ist das Wichtigste“, so lautete Lüttges Credo. „Man muss versuchen, die Leute zu faszinieren, ihnen Freude bereiten. Aber die Basis dafür ist eine Haltung.“ Noch zwei wie in Stein gemeißelte Sätze. Es beginnt zu dämmern, gleich wird das Friedhofstor geschlossen. Lüttge trägt einen forstwirtschaftlich anmutenden, dunkelgrünen Trenchcoat und eine Schiebermütze aus braunem Cord. Seine rustikalen Schuhe knirschen während des Fußmarsches zurück in Richtung Hauptstraße bei jedem Schritt. Theater und Landwirtschaft, das sind die beiden Welten, in denen Lüttge zu Hause ist. Der Waldorf-Schüler, 1943 in Hamburg geboren, ging Ende der fünfziger Jahre nach England, um Bauer zu werden. Er begann eine Ausbildung auf einem Kälbermasthof in Devonshire.

Kühe sind äußerst sensible Zuschauer. „Wenn sie sich aufregen, scheißen sie. Also habe ich gesungen und ihnen etwas vorgespielt, wenn ich sie aus dem Stall getrieben habe. Damit sie erst draußen misten.“ Bald hieß es, der deutsche Lehrling solle lieber Schauspieler werden anstatt die Kühe zu stören. Lüttge zog nach München, nahm Schauspielunterricht und wurde von dem Regisseur Fritz Umgelter fürs Fernsehen entdeckt. Seine ersten Erfolge waren die Fernsehspiele „Kartoffeln inbegriffen“ und „Rebellion der Verlorenen“ und die Serie „Wie eine Träne im Ozean“.

Der deutsche Film kriselte, im Fernsehen herrschte Aufbruchstimmung. „Im Kino war ganz viel Tegernsee, das Fernsehen hatte die interessanteren Stoffe, setzte sich mit der Vergangenheit auseinander.“ Bald stieg Lüttge auch zum Theaterstar auf, ab 1966 gehörte er zum Ensemble der Münchner Kammerspiele. Spannender fand er allerdings, was er auf anderen Münchner Bühnen zu sehen bekam: Gastspiele gefeierter Alternativtruppen wie des Living Theatres, des Footsbarn Theatres oder des Zelttheaters von Jérôme Savary. Ein Theatervirus, der ansteckend war. Denn, so Lüttge: „Im freien Theater stehen die Schauspieler auch für die Inhalte, im Stadttheater nur für die Qualität.“

1978 gründete Martin Lüttge sein eigenes Zelttheater, das seit 1980 „Theaterhof Priessenthal“ heißt, nach dem oberbayrischen Ort, wo er einen 400 Jahre alten, fünf Hektar großen Bauernhof gekauft hatte. „Selbstbestimmt und verantwortlich politisches Volkstheater machen“, der Anspruch aus den Gründertagen gilt bis heute, auch wenn das alte, 600 Zuschauer fassende Zelt inzwischen eingemottet ist und die Schauspieler mit ihrem Repertoire – „man wird älter“ – durch feste Säle tingeln. Zehn Leute arbeiten heute auf dem Theaterhof, im Angebot sind auch Übernachtungen, ein Streichelzoo und Kinderbackkurse.

Geld verdient hat Lüttge immer wieder im Fernsehen. Seine bekannteste Rolle: der WDR-„Tatort“-Kommissar Bernd Flemming, der 1992 die Nachfolge von Götz Georges Schimanski antrat. Nach 15 Einsätzen stieg Lüttge aus dem Krimi aus, weil er „nicht in die Horst-Tappert-Falle laufen“ wollte. Demnächst wird er wieder in einer Serie zu sehen sein, als Vater des neuen Försters Hardy Krüger jr. im ZDF-„Forsthaus Falkenau“. Gedreht wird in Starnberg und Umgebung, nicht allzu weit entfernt von Priessenthal. „Mir gefällt aber auch die humorvolle Psychologie der Serie“, versichert Lüttge. „Blödsinn“, sagt seine Frau. „Du hast dir das doch nie angeguckt.“ Lüttge kontert: „Aber die Bücher sind gut!“

„Brüder Grimm“ läuft bis Sonntag, vom 28. bis 30. Dezember sowie ab dem 19. Januar um 20.30 Uhr im Glashaus der Arena, Eichenstr. 4, Treptow.

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