zum Hauptinhalt

Künstlermuseen: Das blaue Land

Mit dem Münter-Haus in Murnau fing es an. Heute gibt es nirgends in Deutschland so viele markante Künstlermuseen wie in Bayern

Klar wären hier jetzt dichte Wälder, wenn die alten Germanen noch das Sagen hätten. Aber das Landwirtschaftliche hat immer auch Landschaftspflegerisches, Kultivierendes, Kultiviertes zur Folge. Und selbst in Bayern gibt es Perspektiven, größere Äcker und weitere Flure, nicht nur für Raps und genmanipulierten Mais. Wer beispielsweise im Erdinger Moos landet und am Münchner Flughafen ausrollt, der bleibt da eher nicht. Der begibt sich auf Achse, zum Geschäftemachen. Oder einfach so. Und erlebt ein wenig zersiedeltes Land, da und dort nicht unberührt von Autobahntrassen und Asphaltpisten, von Laptop und Lederhose, vom immer gleichen Discounter, wie überall halt zwischen Hamburg und Hinterpfuideifi. Und doch: Ein Land auch der bildenden Künstler. Nirgends in Deutschland gibt es so viele, so markante Künstlermuseen wie in Bayern.

Man fragt sich: Warum ausgerechnet hier? Ist der Freistaat nicht eher für anderes berühmt und berüchtigt? Für schnelle Autos, süffiges Bier, für tief verwurzelte Tradition(en) und seine Liebe zur Natur? Vielleicht braucht Kunst eine so starke Identität, um sich formulieren zu können. Auch im Sinne des jüngst mit über 100 Jahren gestorbenen Münchner Malerfürsten Rupprecht Geiger: „Farbe macht Licht, Raum, Bewegung und Zeit.“

Wer sich am Franz-Josef-Strauß-Flughafen also entscheidet und seine Route zuerst in Richtung Bayerischer (oder auch Fränkischer) Jura lenkt, dem kann bei freiem Blick schon der Mund offen stehen bleiben: ein weites Land mit Waldflächen einige 100 Meter unterhalb scharfkantiger Felsformationen, fast toskanisch, diese Anmutung. Mit einem Horizont, der die Erde als Scheibe erscheinen lässt. Auch das ist Bayern, protestantisches Kernland mit ansbachisch-brandenburgisch-preußischem Anklang. Gebeutelt vom aktuellen Krisengeschehen, setzt die Gegend nun auf Innovatives – und auf Nachhaltigkeit. Jenseits aller Selbstbeschwörungsfloskeln.

Neumarkt in der Oberpfalz, das heuer seinen 850. Geburtstag feiert, zeigt sich gut präpariert. „Die Flucht aus der Zeit“ heißt, fast programmatisch, der Titel der aktuellen Ausstellung im Museum Lothar Fischer (bis 6. Juni). Hier geht es um den geborenen Leipziger und bekennenden Berliner Rolf Szymanski, Jahrgang 1928. Vor allem der Dialog zwischen Szymanski und dem Neumarkter Lothar Fischer (1933–2004) soll Anstoß zum Neu- und Weiterdenken sein, nicht nur in der Erinnerung an die professorale Kollegenschaft beider an der Berliner Hochschule der Künste, heute UdK: „Rolf Szymanski macht sich die Arbeit nicht leicht“, formuliert Fischer in seinem Vorschlagsschreiben zur Aufnahme Szymanskis in die Bayerische Akademie der Schönen Künste. „Er baut auf, überarbeitet, verwirft, lässt stehen, beginnt erneut, bis allmählich jener Zustand erreicht ist, den der Betrachter niemals als endgültig begreifen wird, dem aber offenbar eine Art vorläufiger Endgültigkeit oder vielleicht besser, endgültiger Vorläufigkeit innewohnt.“ Trefflicher lässt sich der rasende Stillstand im 21. Jahrhundert kaum beschreiben.

Das Museum selbst ist aus dem Dialog zwischen Lothar Fischer und den Architekten Johannes und Gudrun Berschneider entstanden. Am 10. Juni 2004, wenige Tage nach dem Tod Fischers, wurde es eröffnet, ein markantes Element im Kanon dessen, was als „Neue Oberpfälzer Bauschule“ in Neumarkt Zeichen setzt. Der Bau ist selbstbewusst und dennoch nicht präpotent, er klotzt nicht, sondern verleiht der Kunst mit gut proportionierten Räumen, Öffnungen und Durchgängen dramaturgische Freiheit. Großflächige Fenster lassen den Blick über Stadtpark, Schlossweiher und den wilden Schlossweiherbach schweifen. Diese Haltung der Zurückhaltung steht einem monografischen Künstlermuseum gut an.

Weiter nach Ingolstadt, wo Fischers Bildhauerkollege Alf Lechner zu Hause ist. Ingolstadt, 1200 Jahre alt, Audi-Town und Münchner Ur-Universitäts-Ort (seit 1472). Kultur und Natur, Gewerbe und Industrie finden sich hier seit jeher erfolgreich vernetzt. Nahe der mittelalterlichen Stadtmauer zeigt das Museum Industriearchitektur als adäquate Hülle für die Werke des Metallbildhauers Lechner. Dessen Stahlskulpturen wirken schwer (was sie real ja sind) – und zugleich extra leicht, als ließe sich ein derartiges massives Teil locker mit der Hand bewegen. „Mein Lebensziel ist die Einfachheit“, sagt der 1925 geborene Münchner. In dieser Einfachheit stecke allerdings so viel Kompliziertes, dass der Künstler gar nicht einfach genug sein könne.

Im Februar 2000 wurde das Lechner Museum eröffnet. Durch den sparsamen Umbau einer ehemaligen Fabrikhalle entstand ein überaus funktionales Gebäude. Lechner kann hier in einer ständigen, ständig wechselnden Ausstellung neue Facetten, Perspektiven und Aspekte seiner gewaltigen Arbeiten vorführen. Und zwar im Dialog mit seinen Zeichnungen, im Diskurs mit Bildhauern anderer Konzeptlinien. Über dem Museum liegt eine kühle Aura, Aluminium und walzblanke Verbundplatten assoziieren Technik und Perfektion. Die pure Metallfassade ohne Fenster, Mauervorsprünge oder Regenrinnen stellt selbst eine große Plastik dar. Die Außenhaut als Metapher: Der Künstler, der sich sein eigenes Museum baut, spielt damit. Aber resultiert daraus zwangsläufig gute Architektur? Seine aktuelle Ausstellung nennt Alf Lechner „Poesie des Zufalls“.

Weiter nach Landshut. Hier in der Nähe, auf dem Ganslberg, residiert Fritz Koenig, hier denkt er sich seine urbanistischen und „urbanautischen“ Konzepte aus. „The Sphere“ zum Beispiel, ein Auftrag für die „Brunnenanlage mit der Kugelkaryatide N.Y.“ im World Trade Center (1967 – 1971); das „Mahnmal der Bundesrepublik Deutschland im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen“ (1983); das „Mahnmal für die Opfer des Terroranschlags der Olympiade 1972 im Olympiapark München“ (1995); oder nach 9/11 die Aufstellung der aus Ground Zero geborgenen Kugelkaryatide als temporäres Mahnmal im Battery Park New York.

Koenig, 1924 in Würzburg geboren, ist das „Skulpturenmuseum Hofberg Landshut“ gewidmet. Ein unterirdisches Wunder, hineingetrieben in den Berg unterhalb der Burg Trausnitz aus dem 13. Jahrhundert mit ihrer weltberühmten Narrentreppe. Koenigs Großplastik für New York wurde hier am Ganslberg gebaut und in Bremen vor der Verschiffung endmontiert. Die wahrscheinlich größte Bronzeskulptur der Neuzeit wog über zwei Tonnen, war 7,60 Meter hoch und hatte einen Durchmesser von 4,60 Meter. Sie krönte, sich in 24 Stunden einmal um ihre Achse drehend, die Brunnenanlage im Zentrum des World Trade Center Plaza – ein Symbol des Weltfriedens. Eine Bronzetafel trägt heute folgende Inschrift: „The sphere was placed here on March 11, 2002 in memory of all who lost their lives to terrorist attacks at the World Trade Center. This eternal flame was ignited on September 11, 2002 in honor of all those who where lost. Their spirit and sacrifice will never be forgotten.“

Das Landshuter Skulpturenmuseum hatte sich schon der junge Fritz Koenig gewünscht. Außen sind von dem 2200 Quadratmeter großen Bau nur zwei Tore in der Ziegelfassade der alten Stadtmauer zu sehen. Im Inneren erschließt ein mäandernder Grundriss den Besuchern Raum für Raum. Wer erfüllt von den Kontrasten nun landschaftlich weiterreist, Isar aufwärts, der spult Kilometer um Kilometer ab. Und landet, ob er will oder nicht, in der Landeshauptstadt.

München also. Stuck-Villa, Lenbachhaus, Hildebrandvilla: einst repräsentative Landsitze einschlägiger Großkünstler und Künstlerfürsten, heute im Herzen der Stadt platziert, als Museen oder Bibliotheken. Und weiter. Vorbei am Museum Buchheim im bemerkenswerten Behnisch-Bau in Bernried am Starnberger See mitten hinein in die Verheißungen des Blauen Landes. Wer sich dem Murnauer Moos nähert, auf der A 99 von Norden her, der registriert große braune Schilder mit weiß stilisierter Moorlandschaft. Grafisch gut gemacht. EU-weit fungiert dieses Braun als Signalfarbe fürs touristisch Interessante. Braun wie Humus, Landschaft, Heimat? In weißer Schrift, dann, im Vorbeidonnern gerade so zu erkennen: „Das blaue Land“. Seltsam.

Was sich im Farbenspiel eines Märzföhnnachmittags zwischen Staffelsee, Riegsee, Walchensee und Kochelsee, hingegossen vor Karwendel, Wetterstein, Zugspitze und Benediktenwand so alles an Lichtmagie ereignet, das kann nur ermessen, wer es erlebt. Und wer es erlebt, der fragt nicht mehr, warum hier und nicht woanders. Nur hier konnte das in solcher Intensität passieren und solche Akzente der Abstraktion, des visuell, akustisch und sprachlich Bildnerischen setzen.

1909 hatte die Bildende Künstlerin Gabriele Münter ein einfaches, durchaus unkomfortables Landhaus am Rand des Marktes Murnau erworben, in atmosphärischer, optischer, atmungstechnischer Nähe zu Murnauer Moor und Moos. Die Anwesenheit der Berlinerin Gabriele Münter zusammen mit Wassily Kandinsky und die häufigen Besuche anderer Maler wie Franz Marc und Heinrich Campendonk aus dem benachbarten Sindelsdorf oder Alexej Jawlenskys, August Mackes, Marianne von Werefkins und Arnold Schönbergs sorgten dafür, dass das kleine Haus zum großen Treffpunkt der Avantgarde mutierte. Hier ereignete sich so etwas wie der Urknall für die Entwicklung wesentlicher Elemente der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Auch Sammler, Kritiker, Galeristen, Theoretiker, Malerfreunde aus München, aus Berlin, aus dem Rest der Welt kamen plötzlich nach Murnau.

Kandinsky schreibt: „Je tiefer das Blau wird, desto tiefer ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels“. Ein Kandinsky-Holzschnitt mit dem Titel „Blauer Reiter“ erscheint 1911, ein Jahr später der gleichnamige Almanach. Arnold Schönberg trug neben Texten und Bildern die Komposition „Herzgewächse“ für diese programmatische Publikation bei. Weltkunst, mittelalterliche Madonnen, afrikanische Plastiken, japanische Holzschnitte, bäuerliche Hinterglasmalerei sollten die innere Verwandtschaft jedweder künstlerischer Artikulation vor Augen führen. Es ist in der Tat nicht der Märzföhnnachmittag allein, der dieses Geistige in alle Richtungen changieren lässt. Es ist die Struktur der Landschaft, die sich von der letzten Eiszeit endmoränenartig zur Felsskulptur entwickeln ließ, schneebedeckt zur passenden klimatischen Konstellation, landwirtschaftlich genutzt, artenvielfältig-blütenüberwuchert, duftend, strahlend.

Auch ein paar Nazis konnten glotzen und sehen, was der Natur hier gelungen war. Doch davor und danach gab es viele Klügere. Lionel Feininger und Paul Klee haben so manche Idee aus dem „Blauen Reiter“ weitergedacht. Und sowohl der Kunst als auch der Architektur des 20. Jahrhunderts reiches Material geliefert. Weiterentwickelte Erscheinungsbilder bei Lufthansa, BMW, Bulthaup und anderen erinnern alltäglich daran, Architekturelemente von Chicago bis Dubai leben davon. Otl Aicher und seine visuelle Kommunikation jener Spiele der XX. Olympiade in München 1972 kommen nicht nur im Vorfeld einer erneuten Olympiabewerbung Münchens für 2018 ins visuelle Bewusstsein zurück. Eine andere Seite eines anderen Deutschland präsentierte sich da, antimilitaristisch, lebensfroh, kreativ.

Das „Blaue Land“ bedeutete für Franz Marc nicht nur Ausflugsziel und Sommerfrische, sondern war ihm seit der Kindheit vertraut. 1914, zwei Jahre vor seinem Tod, erwarb er in Ried bei Kochel ein Haus für sich und seine Frau Maria. Der Weg vom Murnauer „Russenhaus“ ins Kocheler Franz Marc Museum ist nicht weit, weder geografisch noch kunsthistorisch. Die wenigen fußläufigen Meter vom Seeufer zum Museum hinauf öffnen Auge und Geist, Ohr und Bewusstsein – für Natur und Kunst in so spannender und doch einträchtiger Weise wie selten. Das Franz Marc Museum wurde 1986 gegründet, in einer dem Oberland verpflichteten und doch eigenständigen Industriellenvilla. Der Geist, die Vermittlerschaft des legendären Münchner Galeristenpaares Etta und Otto Stangl ist aus dieser Konstellation nicht wegzudenken, das unterstreicht auch Carla Schulz-Hoffmann, die stellvertretende Generaldirektorin der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen: „Hier artikulierten sich die positiven Kräfte einer jungen Generation, die versuchte, die Moderne auf der Grundlage der deutschen Avantgardebewegung des frühen 20. Jahrhunderts, des Blauen Reiters, zu rehabilitieren.“

Eine Öffnung der Villa ins 21. Jahrhundert schien nur mit einer architektonischen Ergänzung möglich. Den Wettbewerb entschied das junge Schweizer Büro Diethelm & Spillmann für sich. Materialgerechtes Bauen im besten Sinn. Im oberen Bereich des Gebäudes bietet es als Abschluss einen kubischen und gänzlich kunstfreien, gänzlich leeren Aussichtsraum mit raumhoher, raumbreiter Verglasung gen Südwesten samt Blick auf Kochelsee, Herzogstand und Heimgarten: eine prachtvolle Sicht der Dinge. Viel versprechen auch die Projekte für 2010: „Horst Antes und Ranru und Boro – Kopffüßler und japanische Textilen“ aus der Sammlung Horst Antes (bis 6. Juni) oder die Sonderausstellung „Paul Klee und Franz Marc – Eine Künstlerfreundschaft“ (28. Juni bis 3. Oktober).

Dies ist ein wahrhaft prächtiger Ort für Diskurse zwischen Natur und Kunst, ein praller Platz zum Denken, Nachdenken, Vorausdenken über Gott und die Welt. Oder über die Welt ohne Gott. Ein einzigartiger meditativer Raum für die Kontrapunktik von Spiritualität und Materialität, für die Auseinandersetzung der Nachkriegskunst mit den Gesellschaften ihrer Zeit, mit den Revolten in Kunst und Politik, mit der globalisierten Totalkontrolle via Internet, mit der Neuordnung von geopolitischen Kraftfeldern. Dafür scheinen sie alle bestens angelegt zu sein, diese ersten, wundervollen bayerischen Künstlermuseen des dritten Jahrtausends.

Wolf Loeckle

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false