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KUNST Stücke: Diese Energie!

Verspüren Sie auch manchmal das Bedürfnis, sich im Museum spontan gegen die Wand zu werfen oder wider alle konservatorische Vernunft direkt an die Farbe zu schmiegen? Kein Wunder, hängen doch in fast jeder Abteilung für moderne Kunst diese großen, weichen Kissenbilder von Gotthard Graubner.

Verspüren Sie auch manchmal das Bedürfnis, sich im Museum spontan gegen die Wand zu werfen oder wider alle konservatorische Vernunft direkt an die Farbe zu schmiegen? Kein Wunder, hängen doch in fast jeder Abteilung für moderne Kunst diese großen, weichen Kissenbilder von Gotthard Graubner. „Farbraumkörper“ nannte der Künstler die sich in die dritte Dimension wölbenden Gemälde, die als flimmernde und nie völlig monochrome Polster ihre in lasierenden Schichten aufgetragene Farbe tatsächlich auszuatmen scheinen. Solche Experimente, aus der Fläche diffuse Räume entstehen zu lassen, machte Graubner zu Beginn der 1970er Jahre auch in seinem beinahe unbekannten zeichnerischen Werk, das der Kunsthandel Wolfgang Werner (Fasanenstraße 72, bis 29. Juni) zurzeit präsentiert. Amorph abgerundete, rechtwinklige Formen in Kohle oder Grafit auf Bütten (12 000 Euro), aber auch transparent schraffierte Flächen auf hauchzartem Synthetikpapier (12 000 Euro) stehen in direkter Verbindung zu den sinnlichen Leinwänden. Die auf 1980 datierten „Feuervögel“, großformatige Pastellzeichnungen von gestischen Farbschwüngen (16 000 Euro), wirken dagegen wie abstrakte Paraphrasen auf das eigene Schaffen. Vor wenigen Wochen verstarb Graubner kurz vor seinem 83. Geburtstag. In seine letzte Ausstellung, die er noch selber hängen konnte, integrierte er außerdem vier frühe Aktzeichnungen, die schon 1956 während seines Studiums an der Kunstakademie Düsseldorf entstanden. Verhalten figurativ stehen sie in deutlichem Kontrast zu seinem gegenstandslosen Werk, nehmen aber hier gekonnt den Kontakt auf zu einer kleinen Bronzeplastik, die sich aus einer zweiten Ausstellung bei Werner vorwagt.

Medardo Rossos „Malato all’ospedale“ von 1889 setzt sich ähnlich wie Graubners Akte hauptsächlich aus den Lichtreflexen grober Ecken und Kanten zusammen, welche die Form aber schließlich als Figur eines Greises definieren, der versucht, sich aus seinem Krankenstuhl zu erheben. Rosso, der 1858 in Mailand geboren wurde, aber in Paris lebte und arbeitete, gehört als Zeitgenosse und Gegenspieler von Auguste Rodin zu den Künstlern, die der Bildhauerei im Gefolge des Impressionismus den Weg in die Moderne ebneten. Er wollte die Skulptur nicht nur von ihrem Sockel emanzipieren, sondern auch von ihren Betrachtern. In der Regel besitzen seine Porträtbüsten und Kopfstudien deshalb nur eine Schauseite. Bewegt man sich um sie herum, rückt die Bearbeitung in den Fokus und man bemerkt, dass die Wachsplastiken einen Kern aus Gips besitzen, oder erkennt, wie pragmatisch die Skulpturen auf ihren Podesten montiert sind. Mit Graubner verbindet Rosso auch das Interesse an Transparenzen und die Arbeit in Serie. So wiederholte er etwa die lichten Modellierungen eines „Bambino ebreo“ in den Jahren 1892/93, um die Nuancen eines Gesichts im Wandel seiner emotionalen Regungen darzustellen. Dank der virtuosen Beherrschung des Materials scheint Rossos Skulpturen (Preise: 275 000–850 000 Euro) dabei stets eine immanente Bewegung eingeschlossen, die noch so viel Energie hat, als könne sie sich jederzeit wieder freisetzen.

Marcus Woeller

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