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KUNST Stücke: Gefangene Zeit

Wer einen Würfel rollt, liefert sich dem Zufall aus. Mit hoher Geschwindigkeit tanzen die Punkte zwischen den sechs Möglichkeiten.

Wer einen Würfel rollt, liefert sich dem Zufall aus. Mit hoher Geschwindigkeit tanzen die Punkte zwischen den sechs Möglichkeiten. Eine Zahl wird erst sichtbar, wenn er am Ende abrupt stoppt. In vier Querformaten schrauben sich bei Dieter Kiessling die Würfel durch die Luft. Wieder und wieder blitzen auf den Langzeitaufnahmen mögliche Zahlen durch, das Ergebnis bleibt jedoch offen. Kiessling prägte über Jahre die deutsche Videokunstszene, und doch beeindruckt in der Ausstellung arrested time in der Hengesbach Gallery (Charlottenstraße 1, bis 18. Februar) besonders seine neue Fotoserie Wurf 2 - 6 (je 12 000 Euro). Von rechts nach links drehen sich die Würfel vor schwarzem Grund. Sie zeigen die Entschiedenheit im Ungefähren, dabei wird aus der mit bloßem Auge kaum sichtbaren Bewegung eine plastische Skulptur, die sich aus dem Papier zu wölben scheint. Daneben zeigt die Galerie eine Videoinstallation Kiesslings, in der es ebenfalls um Bewegung und Drehung geht. Eine Kamera, arretiert in der Mitte eines Tennisplatzes, dreht sich gemächlich in 60 Minuten einmal um die eigene Achse. Dabei fokussiert sie Kiesslings Sohn. Wo er sonst mit hohem Tempo Bällen nachjagt, steht der Junge verloren und sichtlich gelangweilt, um nur ab und an einen kleinen Schritt zur Seite zu machen. Wie der Zeiger einer Uhr wandert er einmal um den Platz. Der Beobachter spürt die Zeit, wenn sie ihm mit dem Jungen lang wird und wendet sich der Umgebung zu. Es ist früher Morgen und die Luft wie die Räume der Ausstellung vom Zwitschern vieler Vögel erfüllt. Die langsame Bewegung des Bildausschnitts und die gemächlichen Schritte stehen im Gegensatz zu den fliegenden Würfeln, die plötzlich still zu stehen scheinen.

Ein paar Schritte weiter zeigt die Galerie Carlier Gebauer (Markgrafenstraße 67, bis 29. Januar) die achte Einzelausstellung des Künstlers Michel François. Der Belgier beschäftigt sich mit dem klassischen Genre der Skulptur und schafft ein beeindruckendes Spektrum von industrieller Härte und fragiler Schönheit. Ein Pavillon (80 000 Euro) mit metallisch knochiger Struktur, montiert aus dünnen Eisenstäben und schimmernden Magnetkugeln, empfängt den Besucher. Daneben windet sich ein mattschwarzer Aluminiumstrang (26 000 Euro) zu einem endlosen Knoten. Diese Bewegung scheint François in seinem Video Tourner III umzusetzen. Hier bewegt sich die Kamera gleichmäßig um den Protagonisten. Nicht fallen! heißt die Installation im nächsten Raum, wo zahllose Pusteblumen an Schnüren von der Decke hängen. Still steht der Besucher unter dem wunderschönen, zerbrechlichen Himmel: „Jetzt bloß nicht niesen!“ Darunter liegt ein grauer Teppich, aus dem der Künstler maßstabsgetreu den Grundriss eines Zimmers in einer Anstalt für Sexualstraftäter rasiert hat. François’ Skulpturen wirken durch die Materialien, sind massiv oder zerbrechlich, mal luxuriös und mal bescheiden wie das Blatt Papier, das der Künstler in einer Arbeit zum blauen Himmel knittert.

Jakob Wais

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