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Kultur: Kunst zeigt die Welt von ihrer anderen Seite

Adornos ästhetische Theorie oder Warum wir Kultur brauchen: ein Gespräch mit dem Philosophen Rüdiger Bubner

Herr Bubner, warum bezeichnen Sie die „Ästhetische Theorie“ Theodor W. Adornos, dessen 100. Geburtstag am 11. September gefeiert wird, als sein eigentliches philosophisches Vermächtnis?

Ein zu Recht gerühmter Text ist die „Dialektik der Aufklärung“; aber der ist in Zusammenarbeit mit Horkheimer im Exil entstanden. Die „Negative Dialektik“ gilt vielen als Hauptwerk; aber hier wird gegen Hegel polemisiert, um gleichzeitig mit ihm zu konkurrieren. Das Buch wirkt überanstrengt. Erst die Fragment gebliebene „Ästhetische Theorie“ trägt ganz die eigene Handschrift. Hier zeigt sich Adorno als Kunsttheoretiker, der Philosophie und Ästhetik sensibel vermittelt.

Das Buch wird oft als Flucht gedeutet: Der ermüdete Philosoph ersehnt Entlastung und überträgt der Kunst den Auftrag, über gesellschaftliche Verhältnisse aufzuklären.

Kunst wurde immer in irgendwelche Dienste genommen, ob der Religion oder der politischen Macht. Erst um 1800 entstand die Idee einer autonomen Kunst. Die war für Adorno interessant: Die moderne Kunst als das Versprechen, sich keinem fremden Gesetz zu beugen, wird auf die Gesellschaft bezogen, die sich aus Sicht des Ideologiekritikers immer von fremden Gesetzen bestimmen lässt. Mit diesem Spannungsverhältnis arbeitet er. Aber selbstverständlich ist eine Kunst, die zeigt, wie es sein könnte, keine reale Befreiung der Gesellschaft, sondern auch nur wieder eine Verheißung.

Eine Art Religionsersatz?

Die theologischen Anklänge verweisen auf den Einfluss von Walter Benjamin, mit dem Adorno seit den Zwanzigerjahren befreundet war und bei dem diese Erlösungserwartung eine große Rolle spielt. Aber Kunst taugt zu keiner neuen Religion, sondern sie macht das Angebot eines Kontakts mit der Welt. Dieser Kontakt ist aber mit üblicher Erkenntnis nur entfernt vergleichbar und außergewöhnlich. Kant spricht von Ausnahmemomenten, in denen uns die Welt unerwartet entgegenkommt.

Und Sie sprechen vom Augenblick der ästhetischen Erfahrung.

Ästhetische Erfahrung erlaubt uns, der Welt, wie sie ist, in einer plötzlich aufbrechenden Freiheit gegenüberzutreten. Das hat nichts zu tun mit der pathetischen Rede von autonomer Kunst oder theologischer Verheißung.

Sondern mit etwas Sinnlichem, Seelischem?

Und mit etwas, was zunächst mit einer Vereinsamung verbunden ist. Die übliche Alltagserfahrung ist doch: Wenn mir heiß ist, leiden auch die anderen unter Hitze. Kunst jedoch zeigt die Welt von ihrer anderen Seite. So wie sich mir in diesem Augenblick etwas zeigt, habe ich das noch nie gesehen. Schon um in dieser Vereinsamung nicht zu verkümmern, folgt dann die Einladung ins Museum oder ins Konzert: Das musst du auch hören! Das wird dich auch ergreifen!

Und die Bindekraft der Kunst entfaltelt sich, wenn Politiker in die Oper gehen.

Abgesehen von Repräsentationszwängen bleibt die ästhetische Erfahrung ein Sonderfall unseres Weltkontakts. Auf Dauer könnte das niemand aushalten.

Wenn man allerdings einbezieht, was Sie die „Ästhetisierung der Lebenswelt“ nennen, wird die Ausnahme zur Regel. Wenn Sie in jeder Fußgängerzone ein Mahlerkonzert hören ...

Es geht nicht darum, dass alle Lebenssituationen sich ununterscheidbar in Kunst verwandeln, sondern dass sich alles Gesellschaftliche mit Lust und Genussmomenten mischt. Schon die Romantiker hatten im Sinn, dass die Kunst ins Leben eingreifen solle.

Adornos Kunstbegriff ist elitärer.

Er trennt tatsächlich streng zwischen den ästhetisch gehaltvollen, aufklärerischen Werken und solchen, die er ablehnt, weil sie an der allgemeinen Verblendung mitwirken ...

... als Teil der so genannten Kulturindustrie.

Noch bevor es das Fernsehen gab, war Adorno ein scharfsinniger Medientheoretiker durch seine Mitarbeit am Princeton Radio Research Project Ende der Dreißigerjahre. Daher stammt die Theorie der Kulturindustrie über die Vermischung, die wir in unseren Medien permanent präsentiert bekommen: diese Mixtur aus Unterhaltung, Belehrung und Information. Das ist zwar nicht gerade Teufelswerk, aber doch immer das ganz Andere der ästhetischen Erfahrung.

Aber laut Adorno sind die Menschen als Opfer der Kulturindustrie zur ästhetischen Erfahrung gar nicht mehr fähig. Er schreibt in der „Ästhetischen Theorie“, dass sie künstlerisch nur noch durch den Schock zu erreichen seien.

Der Schock ist eine Erfindung des Surrealismus und erneuert den Absolutismus. Er besitzt etwas von dem übersteigerten Anspruch, in einem Augenblick das Ganze zu fassen und infrage zu stellen.

Öffnet sich nicht mit jeder ästhetischen Erfahrung eine Falltür zum Begreifen des Großen und Ganzen – und der eigenen Kleinheit?

Die antiken Auffassungen wie etwa der Aristotelische Katharsis-Begriff enthielten in der Tat etwas fast Medizinisches: Die ganze Existenz wird erfasst, aufgewühlt und erschüttert. Aber dabei geht es um etwas eher Sinnliches, leibhaftig Gespürtes. Und vor allem ist offen, wer bei welchem künstlerischen Angebot einen solchen Effekt erlebt. Derlei lässt sich nicht programmieren oder organisieren, schon gar nicht der ästhetische Schock ...

Sie werfen Adornos Kunstbegriff vor, er schließe Lebendigkeit aus: Er weiß von vornherein, wie auf welches Werk zu reagieren sei.

Auch andere haben diesen Einwand erhoben. Adorno bürdet der modernen Kunst eine theoretische Überfrachtung auf. Sie soll nicht nur zeigen, wie es sein könnte, wenn das Falsche überwunden wäre, sondern auch, wie es ist, solange das Falsche noch herrscht. Sie soll möglichst keine Entlastung, Entspannung oder Genuss erlauben, sondern grundsätzlich verstören. Dissonante Musik und zerrüttete Bilder verdienen dabei Vorrang.

Heute ist die Kraft des Hässlichen verbraucht. Uns schockiert fast gar nichts mehr.

Jeder Effekt schleift sich ab, wenn man mit ihm überfüttert wird. Ein Konzert in einer leer geräumten Straßenbahnhalle ist nur bei der ersten Ankündigung erstaunlich. Je mehr Stadtverwaltungen umgenutzte Industriedenkmäler in ihre Kulturbemühungen einbeziehen, desto vertrauter werden die neuen Pilgerorte der Freizeitgesellschaft. Allerdings bleibt da etwas, das ich nie ganz verstanden habe. Denn die moderne Kunst, die vom Allgemeinen so abgekapselt schien, hat mittlerweile gigantischen Erfolg. In manchen Ausstellungen können Sie vor lauter Besuchern kaum noch die Bilder sehen. Der Neuen Musik dagegen haftet etwas Esoterisches an, das nicht weichen will. Adorno hat sich an diese Musik gehalten, vielleicht weil sie sich so schwer trivialisieren lässt.

Sperrige Kunst verlangt nach Erklärung. So kommt die theoretische Anstrengung, von der sich der Philosoph entlasten wollte, durch die Hintertür wieder herein.

Die Zugänglichkeit muss vermittelt werden. Nun gehört die Interpretationsbedürftigkeit der avantgardistischen Kunst gewissermaßen zu ihrer Natur. Man sollte dann allerdings an die Figur des Kritikers denken, die im 18. Jahrhundert entsteht: der Kritiker als Berichterstatter, der Vermittlungsarbeit leistet, ohne antiideologisch zuzuspitzen. Und auch ohne die Querelen zwischen Fachleuten, die über die restaurative Strawinsky- und die progressive Schönberg-Schule diskutieren. Für das Publikum dürften solche Debatten kaum hilfreich sein.

Das sitzt im Konzertsaal, murmelt „interessant!“ und wird doch das Gefühl eines Mangels nicht los.

So viel Freiheit hat natürlich jeder. Der Zuhörer wird die Anleitung durch den Kritiker gerne entgegennehmen. Aber erst, wenn er die Komposition selbst hört, macht er die ästhetische Erfahrung – oder eben nicht.

Adorno spricht vom „Glück an der Dissonanz“, das nur Wenige mit ihm teilen. War der aufgeklärte Kritiker vielleicht ein wenig dünkelhaft?

Ich lese gerade die Briefe, die er aus Kalifornien an seine Eltern geschrieben hat. Er begibt sich da in eine Hollywoodszenerie und ist einerseits geschmeichelt, wenn Filmleute ihn einladen. Andererseits bekennt er als Alteuropäer volle Verachtung. Ich habe ihn später auch bei öffentlichen Auftritten erlebt, wo er sich nach komplizierten Ausführungen beim Applaus wie ein Klaviervirtuose verneigte. Er war vom Publikum sehr angetan. In seinen frühesten Briefen aus Frankfurt erklärt er erstaunt, wie viele Hörer er hat und findet das ganz wundervoll. Aber hier geraten wir in die Zone der menschlichen Eitelkeit. Das will ich nicht bewerten.

Das Gespräch führte Angelika Brauer.

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