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Kultur: "Kurische Nehrung": Renate am Strand

Die Ostsee schäumt, Wellen überschlagen sich, und der Wind pfeift so eisig durchs Mikrofon, dass man sich seinen Träger nur gekrümmt vorstellen kann. Der Beweis dafür aber bleibt aus.

Die Ostsee schäumt, Wellen überschlagen sich, und der Wind pfeift so eisig durchs Mikrofon, dass man sich seinen Träger nur gekrümmt vorstellen kann. Der Beweis dafür aber bleibt aus. Später wird man Renate, eine mollige Rentnerin mit Kopftuch und Mädchenlächeln, aufrecht und aufgeräumt vor großen Sanddünen stehen sehen ohne einen Hauch von Wetterfühligkeit. Vielleicht ist der Ostseewind wärmer als er sich anhört. Eindeutig scheint nichts in diesem Film und das hat er mit der Landschaft gemein, die ihm seinen Titel gibt, "Kurische Nehrung".

Nirgendwo sonst treffen so viele Ränder aufeinander, wie in dieser knapp 100 Kilometer langen und stellenweise nur hundert Meter breiten Landzunge, die bis zum Ersten Weltkrieg deutsch war und heute im Norden zu Litauen, im Süden zu Russland gehört. Schon anfang der siebziger Jahre, als Volker Koepp für die DEFA begann, Dokumentationen zu filmen, hat er diesen Wüsten-, Heide- und Sumpflandstrich im Meer entdeckt. Die Vielschichtigkeit dieser wetterwendigen Ödnis ist es, die Koepps stille Kamera sucht. Und so beginnt sein Film mit langen Einstellungen vom Kampf, den Wolken und Wellen mit sich selbst austragen. "Soll ich anfangen?", fragt Renate, als sie schon lange auf ihrer Veranda im Bild steht. "Sie werden sagen, wann ich beginnen soll", sagte die alte Frau Zuckermann, die Koepp 1999 von den unsagbaren Geschichten der Czernowitzer Juden erzählen ließ. Dabei denunziert seine Kamera nie die Personen, die sich vor ihr in Pose bringen. Sie will keine Haltung vorgeben, sondern die Zeit anhalten, Zeitschichten sichtbar machen, die sich in Menschen und Landschaften übereinander schieben. Und Kameramann Thomas Plenert hält so lange auf das Objekt, bis aus Präsentieren und Schweigen Stimmungen herausklingen, Gegenwart und Vergangenheit. Die Stimmen der Kurischen Nehrung liest Koepp auch vom glühend eisigen Himmel über der Ostsee ab. Aus der roten Sonne, die von hinten durch die kalten Wolken strahlt, und den Schatten, die der Wind gleichzeitig über den weichen Sand peitscht.

Renate steht am Haff und erzählt, wie sie als Kind Krähen zum Mittag fing und sie, wie üblich, durch Nackenbiss tötete. Damals, sagt sie, war alles besser, doch hört man darin eher den Wunsch, sich eine Vergangenheit zu erfinden. Die Gegenwart ihrer Stadt Nida, wo einst Lovis Corinth und Thomas Mann urlaubten, strahlt frisch gestrichen von den weißen Häusergiebeln. In ebenso gelb leuchtendem Kittel steht Renate davor und fegt die Straße, die sauber ist und menschenleer. Menschen findet Koepp auf der russischen Seite der Nehrung in Rybatschi, das früher Rossiten hieß. Betrunkene Fischer, die so verschmutzt und überflüssig in der Spelunke vor sich hin rosten wie die Schiffswracks im Hafen. Zwischen dem Altmetall schwimmen nur noch die Schwäne. Und vielleicht beschreiben die Vögel diesen subtilen, geheimnisvollen Film über Rand-Leben am Besten: Riesige Fangnetze sind in den Dünen aufgespannt, einige Vögel hängen bereits regungslos darin. Eine Hand sammelt sie ein, vermisst und wiegt sie und wirft sie aus dem Fenster. Und statt wie erwartet tot zu Boden zu fallen, fliegen sie davon.

Doris Meierhenrich

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