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Kultur: Kurzer Prozess

Deutsches Theater (2): „Tod eines Handlungsreisenden“

Die Masse Mensch blickt uns an. Eben noch ist die Bühne bis in die Tiefe schwarz ausgeschlagen, leer gewesen, da hat sich in der Mitte eine Sichtblende geöffnet, ist breiter, immer breiter geworden, angefüllt mit jungen Männern, jungen Frauen, reihenweise Schulter an Schulter in weißen Hemden mit schwarzem Schlips. „Ich habe das Recht und die Pflicht, ich selbst zu werden“, artikuliert die uniforme Menge in überlautem Unisono und lässt, ruckartig die Köpfe bewegend, weitere Parolen des persönlichen Glücksverlangens folgen: vom Streben nach „Erfolg und Reichtum“, vom Wunsch nach einem „idealen Arbeitsplatz“. Und so weiter, bis die Stimmen, sich verheddernd, in ein kakophonisches Chaos münden. Da schließt sich die Sichtblende vor der krakeelenden Masse, und wer jetzt aus der Tiefe des Raumes hervortritt, ist wirklich, nämlich unverwechselbar, ein Mensch: Willy Loman, Handlungsreisender, kehrt, seiner Frau zuwinkend, nach Hause zurück. Wie geht es ihm, der nicht mehr der Jüngste ist? Hat er es zu „Erfolg und Reichtum“ gebracht?

Der Regisseur Dimiter Gotscheff erzählt am Deutschen Theater Berlin Arthur Millers alte Geschichte, den Traum vom american way of life, der zum Alptraum wird, auf eine neue Weise – schlank und straff in einer intelligenten Sparversion. Freilich, eine Zutat aus eigener Erfindung, nicht ganz billig, ist jener Chor; der zu Anfang der Aufführung und auch später immer wieder in Erscheinung tritt. Gebildet aus zehn Studenten und neun Studentinnen der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, verkörpert er die amerikanische Idee vom pursuit of happiness in einer Wettbewerbsgesellschaft, die den Einzelnen zur Anpassung an die Vielen zwingt. Das individuelle Drama des Handlungsreisenden wird satirisch konterkariert durch die sich öffnenden Sichtblenden auf die soziale Umgebung: Da rennen sie, die Karrierestreber, im Gleichschritt mit fliegenden Hosenbeinen, da ballen sie die Fäuste und traktieren unsichtbare Gegner, und am Ende, wenn Willy Loman abgetreten ist und sein Herz zum tödlichen Schluss mit ohrenbetäubender Wucht geschlagen hat, repetieren sie hektisch noch einmal ihre Parolen.

Das Personal des Stückes selbst ist dagegen um zwei Drittel des Originals reduziert auf die vier Hauptfiguren, das Ehepaar Loman und seine Söhne Biff und Happy; dazu kommt Lomans Arbeitgeber, der sich allerdings nur als Tonbandstimme vernehmen lässt. Das Miteinander von Vergangenheit und Gegenwart ist getilgt, jene visionären Momente, in denen Loman auf einmal wieder in seinen besseren Jahren lebt, als er sich noch Hoffnungen auf eine verheißungsvolle Zukunft seiner beiden vermeintlich begabten Jungen machen und ihnen raten konnte, sich ein Beispiel zu nehmen an seinem tüchtigen Bruder Ben, der sich auf afrikanischen Diamantenfeldern reich gestoßen hat. Bens Devise: „Kämpf niemals fair mit einem Fremden" – Loman kann solche Begegnungen mit seinem Bruder nur noch im Selbstgespräch heraufbeschwören, wenn er vor seinem Häuschen am New Yorker Stadtrand zum Himmel emporblickt, zu den wachsenden Wohnblocks, die sein lebenslang abgestottertes Eigenheim bedrängen.

Gerade das Deutsche Theater hat letzthin des öfteren, am eindringlichsten mit Michael Thalheimers „Emilia Galotti“-Fassung, bewiesen, welche starke Wirkung auch die rigoroseste Entrümpelung der Bühne erzielen kann. Dimiter Gotscheff, als junger Mann Benno Bessons Schüler an diesem Haus, geht nun mit seiner ersten Berliner Inszenierung ähnlich radikal vor: Anri Koulevs Ausstattung zeigt nichts von dem fürs Gestern und Heute transparenten Anwesen Willy Lomans und seiner Umgebung, keine Spur von poetischer Aura, sondern lediglich ein Sofa, das sich gelegentlich aus dem Boden aufklappt. In dieser nebelgrauen Leere wird das Stück, übersetzt von Volker Schlöndorff und Florian Hopf, pausenlos in eindreiviertel Stunden durchgezogen – mit überrumpelndem Ergebnis.

Gotscheff, dessen Inszenierungen immer wieder wegen ihrer körpersprachlichen Ausdruckskraft gerühmt worden sind, bestätigt diese Qualität auch hier. Und dies durchaus nicht nur mit den Chorszenen, bei denen ihm die Choreographin Eva-Maria Otte zur Seite stand, sondern auch mit der Führung seiner Schauspieler, die mit bewundernswerter Energie bei der Sache sind. Allen voran Christian Grashof, der in der Rolle des Willy Loman alles andere tut, als seinen traurigen Helden sentimental zu verklären.

Dieser Handelsreisende ist ja zeitlebens ein kleiner Mann gewesen, der zur Großspurigkeit neigt, sprunghaft zwischen Schein und Sein wechselnd, und Grashof macht dies mit jeder Faser seines Körpers anschaulich. Mal reckt und streckt er sich, mit bebendem Finger gen Himmel zeigend, lässt die Stimme anschwellen wie ein Volksredner, dabei ist er doch nur ein Haustyrann; mal sinkt er kleinlaut in sich zusammen, vermag sich im verzweifelten Wechsel von Flüstern und Schreien nicht zu behaupten gegen den Juniorchef, der, ein böser Deus ex machina, ihn eiskalt abserviert. Eben noch hat er in aberwitzigem Stolz, in seinem Beruf der Größte zu sein, ein strahlendes Gesicht gezeigt, da zittert ihm, der weiß, dass er seiner Familie nur noch mit seinem Unfalltod und der fälligen Versicherungssumme helfen kann, nervös die Hand.

Ein schwacher Vater – schwache Söhne, die vergeblich den starken Mann spielen: Robert Gallinowski, der Landarbeiter Biff, hängt mit krummem Rücken herum, rafft sich immerhin einmal auf, um den Eltern Bescheid zu geben: „In diesem Haus haben wir einander nie die Wahrheit gesagt“; David Rott, der kleine Angestellte Happy, wirft sich zum Trost für seine Misere in die Posen eines Macho. Wenn der elende Größenwahn ihrer verwöhnten Jugend die Brüder überkommt, steilen sie sich aneinander auf wie zwei Flitzbogen, um alsbald wieder zu erschlaffen. Und: Margit Bendokat als Linda Loman im karierten Kleid der tapferen Hausfrau: Sie hat ihre große Szene, als sie den Vater gegen die schnöde mäkelnden Söhne verteidigt und für den Mann, den sie liebt, mit steigender Stimme eintritt, seinen Schwächen zum Trotz: „Aber er ist ein Mensch, und es passiert ihm gerade etwas Schreckliches. Also gebührt ihm Achtung. Er darf nicht ins Grab fallen, wie ein alter Hund.“ Wo sie Recht hat, da hat sie Recht.

Wieder am 20. und 30. Januar.

Günther Grack

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