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Walter Rathenau am 11. April 1922 kurz vor seiner Reise nach Genua.

© imago/United Archives International

Abarbanell-Roman "10 Uhr 50, Grunewald": Kurzes Glück

Vor 100 Jahren wurde der Reichsaußenminister der Weimarer Republik, Walther Rathenau von Rechten ermordet. Stefan Abarbanell erzählt in einem Roman sein Leben.

Am 24. Juni 1922, einem kühlen, bewölkten Samstagmorgen, verließ Walther Rathenau seine Villa im Grunewald und stieg in ein schwarzes offenes Coupé, um sich in sein Büro im Zentrum Berlins chauffieren zu lassen. Trotz aller Morddrohungen und Anschlagswarnungen fuhr er ohne Begleitschutz.

Fünf Minuten später, um 10 Uhr 50, überholte ihn auf der Koenigsallee ein Fahrzeug, aus dem rechtsnationale Attentäter ihre tödlichen Schüsse abfeuerten. So wurde der Reichsaußenminister zum Märtyrer der noch jungen Weimarer Republik.

Die fünfminütige Autofahrt bildet den Zeit- und Handlungsrahmen von Stephan Abarbanells rasantem Roman über Walther Rathenau. Dessen Leben lässt Abarbanell in diesen fünf Minuten wie in einem Zeitraffer Revue passieren.

Als hätte er sein Ende vorausgeahnt und aus Stolz, Trotz oder Resignation in Kauf genommen, ziehen die wichtigsten Episoden noch einmal an ihm vorüber. Sie reihen sich wie Schlüssel- oder Filmszenen aneinander, von Abarbanell spannend zu einem Kaleidoskop funkelnder Miniaturen zusammengesetzt.

Hier verbinden sich Fakt und Fiktion

Es ist Abarbanells dritter Roman, der wie die Vorgänger „Morgenland“ (2017) und „Das Licht dieser Tage“ (2019) die deutsch-jüdische Geschichte und Identitätsfrage umkreist. Diese scheint Stephan Abarbanell in die Wiege gelegt worden zu sein. Denn die Abarbanells waren sephardische Juden, die im Gegensatz zu Rathenau im Kaiserreich konvertierten.

Im Spannungsfeld zwischen Assimilation und Anderssein hat der Autor in Rathenau einen Protagonisten gefunden, der die „Quintessenz der deutsch-jüdischen Geschichte“ verkörpert. So wie es Shulamit Volkov in ihrer 2012 veröffentlichten Rathenau-Biographie resümiert: „Das Leben eines Deutschen und eines Juden, der mit seiner zweifachen Identität kämpfte, aber darauf bestand, dass beides vereinbar war. Und der dadurch immer wieder seine tiefe Menschlichkeit bewies.“

Abarbanells Einstieg war aber nicht diese, sondern die erste bis heute wegweisende Rathenau-Biographie von Harry Graf Kessler aus dem Jahr 1928, die den ehemaligen rbb-Kulturchef sofort fasziniert hat. Seine umfassende Lektüre, sorgfältige Recherche und psychologische Einfühlung bilden das tiefgründige Fundament, auf dem sich Fakt und Fiktion miteinander verbinden.

Dafür stehen dem studierten Theologen und Rhetoriker Abarnell nicht nur sprachliche, sondern auch fotografische, filmische und musikalische Mittel zur Verfügung. Pointierte Dialoge, prägnante Details und subtile Metaphern wie etwa das bildhafte Wortfeld der Elektrizität (Strom, Kontakt, Spannung) machen diesen historischen Roman zu einer lebendigen, vielschichtigen Lektüre.

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Auf der historisch-politischen Ebene tauchen wir ein in die unruhigen Anfänge der Weimarer Republik, in der sich Rathenau trotz antisemitischer Anfeindungen und gegen den Willen seiner Mutter in die politische Pflicht nehmen lässt. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und dem Diktatfrieden von Versailles galt es ihm, seine Vision einer „Erfüllungspolitik“ mit dem Ziel eines friedlichen Europas zu verwirklichen.

Hautnah lässt sich erleben, welchen diplomatischen Drahtseilakt der frisch gekürte Reichsaußenminister 1922 bei der Konferenz von Genua gegenüber den Alliierten zu vollführen hatte. Unter größtem Druck unterzeichnete er hier schließlich gegen seine innere Überzeugung den separaten Vertrag von Rapallo mit Russland, der ihm zum Verhängnis wurde.

Auf der biographischen Ebene begegnet uns ein beeindruckender, mächtiger und zerrissener Mann mit vielen Talenten. Er war ein Industrieführer, Kriegsrohstoffmanager, Wiederaufbauminister leidenschaftlicher Autoliebhaber, literarischer Star, brillanter Redner, talentierter Zeichner und Kunstliebhaber – kurzum: eine schillernde Epochenfigur.

Auf der psychologischen Ebene porträtiert Abarbanell einen komplizierten und komplexen Mann voller Widersprüche. Im Konflikt mit dem Vater Emil Rathenau, dem erfolgreichen Firmengründer der AEG, ringt er um Anerkennung; und Walther steht in Konkurrenz zu seinem jüngeren Bruder Erich.

Leitmotiv ist das Unerfüllte dieses Lebens

Nach dessen frühen Tod muss er den Vorstandsvorsitz der Firma trotzdem dem Rivalen Felix Deutsch überlassen. Haltung, Ordnung und Contenance sind die prägenden Maximen der Mutter, „als wäre das Gesetz Sinai um einen preußischen Appendix erweitert“. Am nächsten steht Walther seine jüngere Schwester Edith, die mit ihren intellektuellen und musischen Neigungen einen der prominentesten Salons in Berlin führt.

In menschlicher Hinsicht stehen Rathenaus preußische Tugenden – Pflichtbewusstsein und Vaterlandsliebe, Treue und Tapferkeit, Bildung und Beständigkeit, Ehrgeiz und Eitelkeit – seinem Lebensglück und seiner Liebe im Weg. Zwar zieht es ihn zu jenen Menschen, die den Mut zum Glück haben. Doch das Glück scheint für ihn nur in wenigen Moment auf, wenn er sich dazu verführen lässt.

So wird die Unerfüllbarkeit zu einem Leitmotiv, das sich im Scheitern seiner politischen, letztlich undurchführbaren Mission ebenso wiederfindet wie in der unerfüllten Liebe zu und von Lili Deutsch. Sie war die langjährige Vertraute und Freundin – und als Ehefrau seines Konkurrenten und Firmenvorstands Felix Deutsch nolens volens ein Tabu.

Genauso tabu war die ungeklärte und nicht ausgelebte Homosexualität von Walther Rathenau. Für diese hat Abarbanell einen geschickten Kunstgriff parat: Er erfindet die romantische Gegenfigur des jungen Fotografen Amos Roth, der nicht nur eine „gewisse Losigkeit des Lebens“ verkörpert und Rathenau sogar zu einem verwegenen Ausflug in den Luna-Park animiert. Nein, Roth nimmt auch die zionistische Gegenposition ein bezüglich der Zukunft der Juden in Deutschland.

Angesichts des Antisemitismus in Deutschland und der rechtsextremen NSU-Morde hat Stephan Abarbanell mit „10 Uhr 50, Grunewald“ einen erschreckend aktuellen historischen Roman geschrieben – und einen biographischen Roman voller Menschenkenntnis und Menschlichkeit.

Dorothea Zwirner

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