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Kurzkritiken: Sehenswertes im Forum und Panorama

"Double Tide" und "Nenette" im Forum, "A Film Unfinished" im Panorama

FORUM

Wasserwelt: „Double Tide“ von Sharon Lockhart

Zwei mal die fast gleiche Bewegung, zweimal auch fast der gleiche Film: Man sieht eine dunstverhangene Wasserlandschaft, in der sich eine einzelne Figur vor einer Landzunge langsam im Zickzack vom Bildrand in den zentralen Hintergrund bewegt und dabei immer wieder etwas aus dem Wasser in einen kleinen Korb pflückt. Man hört Wind und Wasservögelgeflöte, dazu das Schmatzen der Stiefel im Schlick und das ähnlich satte Flatschen bei der kontinuierlichen Armbewegung aus dem Wattengrund in den Korb. Als ein Nebelhorn ertönt, ist die Landzunge in Dunstschleiern versunken. Dann, nach etwa einer halben Stunde, lichtet sich die Ansicht zu einem zartfarben erleuchteten Panorama, während sich das Vogelgezwitscher zum Konzert steigert und die kleine Person in der Ferne nur durch ihren Sound gegenwärtig bleibt.

Dann noch einmal von vorne, diesmal in am Abend. Gefilmt in Maine, USA, am 22. Juli 2008. Dass die Person eine Muschelsammlerin ist, dürften mitteleuropäische Großstädter erst aus dem Begleitmaterial zum Film erfahren. Muss man auch nicht wissen. Sharon Lockhart liefert mit „Double Tide“ den minimalistischen Höhepunkt des diesjährigen Programms. Ein wunderschön einfacher und doch hochkomplexer Film, der Seh- und Hörsinn öffnet und zum Weiterspinnen animiert. Nur, bitte schön, was war der Job der im Abspann genannten Cutterin bei diesem aus zwei Teilen montierten Film? Silvia Hallensleben

Heute 16.30 Uhr (Cinestar 8), 16. 2. , 19 Uhr (Delphi), 18. 2., 18 Uhr (Arsenal 1)


PANORAMA

Im Warschauer Ghetto: Yael Hersonskis „A Film Unfinished“

Die geschönten „Dokumentar“-Filme aus Theresienstadt dürften mittlerweile den meisten ein Begriff sein. Von einem anderen, erst kürzlich entdeckten Fall nationalsozialistischer Filmfälschung berichtet diese Dokumentation von Yael Hersonski. Nur wenige Monate vor Beginn der großen Deportationen schickten die Nazis ein Filmteam ins Warschauer Ghetto, um dort zu Propagandazwecken das alltägliche Leiden und Sterben abzulichten. Und um kontrastierende Bilder zu inszenieren, die das angebliche luxuriöse Lotterleben anderer Ghettobewohner demonstrieren sollten. Der Film wurde nie veröffentlicht, vielleicht waren die Aufnahmen vom Elend selbst den Nazis zu brisant. Pikanterweise werden viele Einzelteile des NS-Propagandawerks bis heute in Film und Fernsehen als vermeintlich authentische Dokumentarbilder aus dem Ghetto genutzt.

Leider wird dieser bemerkenswerte Aspekt von Yael Hersonski Film enttäuschend wenig beleuchtet, auch die überladene Inszenierung von „A Film Unfinished“ mit viel Musikgeklimpere nervt immer wieder. Dafür entschädigt der Einblick in das erhaltene Originalmaterial und die Methoden seiner Inszenierung. Überzeugend auch die Idee, die oft kaum erträglichen Szenen durch Überlebende aus dem Ghetto selbst kommentieren zu lassen. Zusätzlich konnte die Regisseurin den damaligen Kameramann Willi Wist als Zeugen auftreiben. Er sagt, dass er sich keiner Schuld bewusst ist. Silvia Hallensleben

Heute 14.30 Uhr (Cinestar 7), 16. 2., 12 Uhr (Cinestar 7), 17. 2., 15.30 Uhr (Colosseum 1)

FORUM 

Die orange Evolution: Nicolas Philiberts Doku „Nénette“

Sie sieht traurig aus. Vielleicht liegt es an den winzigen Augen unter der schütteren Beatlesfrisur, am schlabbrigen Kehlsack, an den gemächlichen Bewegungen. Womöglich ist sie aber bloß unglaublich gelassen: Nénette, das älteste Oran-UtanWeibchen im Zoo des Pariser Jardin des Plantes, bringt es auf ein methusalemisches Alter von 40 Jahren, ein normaler Orang-Utan schafft höchstens 35. Der französische Dokumentarist Nicolas Philibert („Sein und Haben“) hat Nénette gefilmt, dazu ihre drei jüngeren Artgenossen im gläsernen Käfig. Nahaufnahmen. Nénettes faltige Finger. Der Mund, den sie zum Ballon wölbt. Die sich zum Greifwerkzeug schürzenden Lippen. Die Präsenz ihres zottigen Leibs, ihre Diskretion, ein Affe mit Aura. Vor allem aber filmt Philibert, wie Nénette schaut, mit einem Blick, den wir Menschen nie hinbekommen, weil wir immer mit Bedacht schauen, mit Absichten, Urteilen, Interessen. Es ist sozusagen das reine Schauen.

Philibert tut etwas Wunderbares. Er konfrontiert den projektionslosen Blick des Tiers mit den Projektionen der Menschen, mit dem, was die Zoobesucher sagen, Kinder, Paare, eine Psychologin, ein Schauspieler, der ihre Kunst des Nichtstuns vor Publikum bewundert, und die Wärter, die Nénette kennen, seit sie dreijährig aus Borneo kam. Sie alle staunen, erklären, plappern, singen. Nénette ist zu sehen, aber nicht zu hören, die Menschen sind zu hören, aber nicht zu sehen.

So wird „Nénette“, der Film, zur Hommage an ein gefangenes Tier, an das gefangene Tier in jedem von uns. Und zur Etüde über das Kino, das alle gefangen nimmt: seine Figuren genauso wie den Zuschauer im Saal, der gebannt ist von den Bildern einer so vertrauten und doch unendlich fremden Kreatur. Christiane Peitz

Heute 14.15 Uhr (Cinestar), 16.2. , 20 Uhr (Colosseum 1), 18.2., 22 Uhr  (Cinemaxx 4)

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