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Kultur: Kuss der Artischocke

Eine Ausstellung in Florenz präsentiert Giorgio de Chirico als Ideengeber der Surrealisten

Seine zumeist leeren Piazzen atmen die morbidezza des späten Sommers. Bedeutungsschwer thront auf dem Sockel eine antike Schöne vor hohen, düsteren Arkaden. Lange Schatten wirft das Licht des Nachmittags über die planen Flächen. Ein winziges Menschenpaar strebt weg von der Skulptur, die das Postament als „Melanconia“ ausweist.

„Wenn ein Kunstwerk wirklich unsterblich sein soll, muss es alle Schranken des Menschlichen sprengen: Es darf weder Vernunft noch Logik haben. Auf diese Weise kommt es dem Traume und dem Geist des Kindes nahe.“ Davon war der Begründer der pittura metafisica überzeugt. Seine Initiation empfing Giorgio de Chirico 1909 auf der Piazza Santa Croce in Florenz. In einem Zustand „morbider Sensibilität“ hatte der für Nietzsche schwärmende Jüngling das Gefühl, an einem klaren Herbstnachmittag alle Dinge „zum ersten Mal“ zu erblicken. Fortan halten enigmatische Ensembles Einzug in die Kunstgeschichte: markante Türme und heroische Statuen bevölkern Stadtlandschaften. Kanonenrohre schießen auf Artischockenköpfe. Im Wind flattern die Fahnen. Allerdings in andere Richtungen als die Wölkchen der am Horizont schnaufenden Eisenbahn auf derselben Leinwand.

Passenderweise am Ort seines ästhetischen Erweckungserlebnisses lässt sich nun nachvollziehen, wie nachhaltig de Chiricos rätselhafte wie atmosphärisch aufgeladene Bildfindungen waren. Im Florentiner Palazzo Strozzi stellen die Kuratoren Guido Magnaguagno und der Berliner Kunsthistoriker Gerd Roos – einer der profundesten Kenner de Chiricos – dessen kafkaeske Kompositionen Zeitgenossen wie Morandi, Max Ernst, Magritte und Balthus gegenüber. Aber auch weniger Bekannte wie Arturo Nathan oder Niklaus Stoecklin ließen sich von dem Maler inspirieren, der 1888 ausgerechnet im thessalischen Volos zur Welt kam, von wo die Argonauten aufbrachen zwecks Suche nach dem Goldenen Vlies. Gold hat auch der Meister geerntet, dessen Gemälde bis heute hohe Preise erzielen. Erinnert sei an die Versteigerung des Nachlasses von Yves Saint Laurent im vergangenen Jahr: Für 9,8 Millionen erwarb das Centre Pompidou das Gemälde „Il Ritornante“ aus de Chiricos klassischer Phase von 1918. Jüngste Auktionen in Wien ergaben im Mai für das Bild „Venedig mit Canale Grande“ (1966) im Dorotheum stolze 329 300 statt der geschätzten 122 000 Euro. Und im Juni kletterte seine undatierte Bleistiftzeichnung „Bagni misterioso“ im Auktionshaus Kinsky von 4000 auf 22 000 Euro.

Das eigentümlich Puppenhafte der Figuren von de Chirico wie auch ihr Schlafwandlerisches hat am raffiniertesten Balthus transponiert. In seinem großen Gemälde „Le passage du Commerce- Saint-André in Paris“ (1952) führen Hauswände, geschlossene Fensterläden und sachte schreitende Bewohner von Saint Germain geheimnisvolle Zwiegespräche. Als im Juni 1936 die große International Surrealist Exhibition in der Londoner New Burlington Gallery zustande kam, zeigte sie zum Auftakt den frühen de Chirico mit zwölf Bildern aus der Zeit von 1913 bis 1917. Dem so zum Gründungsvater des Surrealismus Nobilitierten wurden damals 16 Werke Max Ernst sowie 14 von René Magritte beigesellt.

Das Inventar aus de Chiricos „Le chant d’amour“ (1914) taucht bei Letzterem variantenreich auf. De Chiricos „Zwei sitzende Akte“ (1926) tragen kräftiges Himmelsazur im Inkarnat und spiegeln die Außenwelt im Inneren. Magritte greift ein Jahr darauf in „Le sens de la nuit“ zu einer ähnlichen Anordnung der Figuren und schichtet die natürlichen Verhältnisse um, indem er den Strand mit Wölkchen bedeckt. Tief lotet Max Ernst seelische Abgründe aus – und erweist sich damit de Chirico als geistesverwandt: In Ernsts „Jardin gobe-avion“ fallen fleischfressende Pflanzen über Flugzeugteile her, Städte werden von wuchernden Wäldern verschlungen. Mit solchen Sujets beschwört er ähnliche schleichende Katastrophen wie de Chirico, während Magrittes Reich die Nacht ist.

Munter verquickt de Chirico in den 20er Jahren Außen und Innen: Waltete früher die dösige Leere der Plätze, so geht es nun zu wie in einem vollgestopften Möbelwagen, wo sich Art-Déco-Anrichten das Raumgeviert mit antiken Spolien, Tempeln oder Sanddünen teilen müssen. Bei de Chiricos Bruder Alberto Savinio stapeln sich Kisten, Kästen und Spielsachen in messiehafter Manier auf „La nave smarrita“ (1928). Das Motiv von de Chiricos gesichtsloser Gliederpuppe, der erstarrten Figur als Topos der Vereinsamung des modernen Menschen, spiegelt sich insbesondere wieder beim Basler Niklaus Stoecklin (1896–1982). Seinen Durchbruch erzielte er 1925, als er als einer der wenigen Nichtdeutschen in der Mannheimer Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ vertreten war. Später avancierte er zum erfolgreichen Plakatkünstler. Sein vier Jahre später entstandener „Perückenstab mit Sparbirne“ zeigt eine Schneewittchen-Schönheit mit Bubikopf und Rougewangen vor Spardose mit Schlagschatten.

Palazzo Strozzi in Florenz; bis 18. Juli. Der Katalog kostet 32 Euro.

Martina Jammers

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