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Kultur: Latino-Sex in Lagos

Lubricat globalisiert das Theater: „Mutation“ in den Berliner Sophiensälen

Wenn ein kahlgeschorener Chinese in einer Jacke der US-Army begeistert den Ramones-Klassiker „Sheena is a Punkrocker“ singt, ist das ein gewöhnungsbedürftiger Anblick, und das nicht nur, weil er immer „Heena" singt: "Heena is a Punklocka, yeah“. Der gerechte Ausgleich folgt spätestens, als ein deutscher Schauspieler die hochformalisierten Bewegungsabläufe einer klassischen Peking-Oper in einer Art Karaoke-Version mit Hingabe nachzappelt: keine Ahnung, aber die volle Dosis Euphorie.

So lustig wurde der Clash der Kulturen vermutlich noch nie inszeniert. Augenzeugenberichten zufolge soll die Karaoke-Nummer mit der Peking-Oper bei der Uraufführung in Shanghai für ziemliche Begeisterung im Publikum gesorgt haben. Jetzt ist das Stück mit drei chinesischen Performern und zwei deutschen Schauspielern in die Sophiensäle gekommen, zusammen mit Produktionen aus Buenos Aires, Lagos, Nigeria und Richmond, Virginia. In den anderen Inszenierungen wird dieses Spiel mit dem Crossover der Kulturen mit ähnlichem Karacho betrieben: Wenn eine Gruppe Afrikaner auf einem Hinterhof in Lagos zusammen mit zwei gut gelaunten Deutschen die Soft-Pop-Schnulze „I believe I can fly“ schmalzt oder wenn eine argentinische Diva (die tolle Schauspielerin Tatiana Saphir) resolut erklärt, sie sei bereit für das Leben in der ersten Welt, schließlich habe sie „Adorno and Lacan and Foucault“ gelesen. Jetzt will sie unbedingt nach Miami, weil es dort so schöne Freeways und Häuser und wieder Freeways gibt. Irgendwas muss mit der Adorno-Rezeption in Argentinien schief gelaufen sein.

In den letzten Monaten hat der Berliner Regisseur Dirk Cieslak, Kopf der Company Lubricat, eine Serie von vier Produktionen in Afrika, Asien, Lateinamerika und den USA inszeniert („Mutation“). Alle vier Stücke sind jetzt in Berlin zu sehen, parallel zu den Gastspielen arbeiten die Schauspieler aus fünf Kontinenten an einem gemeinsamen Finale – ein rasantes Theater der Globalisierung. Produziert wurden die Stücke jeweils vor Ort, immer mit zwei deutschen Darstellern und drei Künstlern des jeweiligen Landes. Ausgangsmaterial war kein fertiges Stück, sondern eine grob skizzierte Versuchsanordnung: Improvisationen über das Leben in der Stadt, die globale Pop-Kultur und die kulturellen Differenzen der Beteiligten. Theater als Realitätsrecherche. Und weil jede der vier Produktionen in knappen sechs Wochen entstanden ist, haben sie alle etwas angenehm Vorläufiges: ein Jonglieren mit Bedeutungen, Lebensentwürfen und kulturellen Codes, keine endgültigen Behauptungen und verhärteten Statements.

In Lagos hat Cieslask einen kruden Film gedreht, eine Mischung aus dem nigerianischen „Noolywood“-Kino und Off-Theater, in Shanghai hat er halbdokumentarisch mit kurzen Geschichten, Erinnerungsfetzen der Schauspieler und krachenden Musikeinlagen gespielt, ein Theaterabend, dessen trockene Komik einen eigenen Reiz entfaltet – vor allem dank des umwerfenden Schauspielers Cao Yi Yun, einem Star der echten Peking-Oper. Am theatralischsten, sinnlichsten ist die Inszenierung aus Buenos Aires. Hier geht es, nur kein Klischee auslassen, vor allem um eines: Sex. Beziehungsweise um das, was Europäer für dampfende Latino-Erotik halten. Leicht verkrampft, aber finster zu allen Ausschweifungen entschlossen, die lateinamerikanische Liebhaber zu bieten haben, stöckelt eine Schweizerin in den interkulturellen Austausch von was auch immer: echten oder falschen Gefühlen, Körperflüssigkeiten oder Öko-Gequatsche. Rahel Savoldelli spielt diese entlaufene Waldorf-Schülerin mit typengenauer Komik. In einem beeindruckenden Walross namens Walter Velázquez findet sie den adäquaten Partner: einen Mann, der gerne seine Wampe entblößt und jedem erzählt, sein ganzer Stolz sei, dass er einmal „neun Stunden Liebe gemacht“ hat. Niels Bormann, der einzige Schauspieler, der bei allen „Mutation“-Produktionen dabei ist, gibt den Zwangsneurotiker, der die mal versauten, mal albernen Kollegen energisch, aber vergeblich zu disziplinieren versucht.

Bormann, sonst ein sehr charmanter, eher weicher Schauspieler, entdeckt den Deutschen in sich, der bekanntlich nirgends so deutsch ist wie im Ausland. Und prompt wird er von der Diva (Tatiana Saphir) als, logisch, Nazi beschimpft. Tatriana Saphir ist es auch, die den Deutschen eine düstere Zukunft voraussagt. In ihren Augen hat die Politik des Internationalen Währungsfonds, IWF, Schuld an der Wirtschaftskrise in Argentinien – und damals war Horst Köhler IWF-Chef: „Jetzt bekommt Ihr Mr. Köhler, Ihr werdet ja sehen, was Ihr davon habt“.

Wieder ab 9.6. Finale: 18., 19., 20.6.

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