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Der Roman aller Romane. Keira Knightley als Anna Karenina. Eine Neuverfilmung des Meisterwerks von Leo Tolstoi kommt am 6. Dezember in die Kinos.

© Focus Features

Lob der Fiktion: Leben spielen

Der Roman ist tot, hieß es in diesem Bücherherbst. Aber was wäre der Mensch, könnte er sich nicht neu erfinden?

Die Neuigkeit erreichte mich im Auto. Ich saß vor der Schule meiner Tochter im Auto und las – anstatt loszufahren – in Tolstois Roman „Familienglück“. Ich hatte zu tun, aber ich konnte nicht aufhören. Leo Tolstoi ist der Autor, der gewissermaßen den Roman aller Romane geschrieben hat, „Anna Karenina“, mit dem berühmtesten Romananfang der Literaturgeschichte, über die glücklichen Familien, die einander ähneln, während jede unglückliche Familie auf ihre Weise unglücklich ist.

Ich las also „Familienglück“, den Tolstoi vor „Anna Karenina“ schrieb, ein schmales Werk, in dem es naturgemäß ebenfalls mehr um das Unglück geht als um das Glück, obwohl der Anbahnung des Glücks viel Platz eingeräumt wird. Ein nicht mehr ganz so junger Mann verliebt sich in eine junge Frau, deren Vormund er nach dem Tod ihrer Mutter ist. Die langsame Annäherung der beiden, den Übertritt der Gefühle vom geschützten Raum der Freundschaft aufs ungeschützte Feld der Liebe, den Affentanz der Offenbarung (zwei Schritte vor, einen zurück), aber vor allem die Verwunderung der Figuren über die Verwandlung ihrer selbst – all das beschreibt Tolstoi so leichthändig präzise, so gemächlich und dabei mit unerwarteten Wendungen in jedem Absatz, dass ich nach 80 Seiten und so viel zauberischem Gelingen eine Pause brauchte.

Ich griff nach dem Smartphone und blätterte online durch die Zeitungen. Ein Nachrichtenmagazin brachte eine Eilmeldung: Der Roman ist tot, stand da. Ich war geschockt. Die anderen brachten die Meldung auch. Der Roman, diese epische Großform in Prosa, spät entwickelte Gattung, seit dem 19. Jahrhundert die Gattung der Literatur schlechthin – gestorben im Bücherherbst 2012.

Krieg, Finanzkrise, Wahnsinn

Nach dem ersten Schreck fiel mir ein, dass dieser Tod (wie im klassischen Roman) nicht ganz ohne Vorzeichen gekommen war. Jonathan Franzen hatte sein Ende schon vor über zehn Jahren prophezeit, der geheimnisvolle Thomas Pynchon und der hochgeschätzte Don DeLillo hatten Ähnliches geschrieben. Und hat Philip Roth inzwischen nicht angekündigt, nie wieder einen Roman schreiben zu wollen und in der „New York Times“ behauptet, Fiktion sei vorbei? Internet, Twitter, Blogs, Digitalisierung der Verlage. Die komplexer gewordene Welt einerseits, die Verfügbarkeit des Weltwissens auf Knopfdruck andererseits. All das hat den Roman in letzter Zeit wie einen steinalten Waldzausel aussehen lassen.

Als ich die Todesanzeigen genauer las, musste ich erstaunt erfahren, dass der Roman gar nicht dem Siegeszug des Internets erlegen war – sondern dem Narzissmus und der Erfahrungslosigkeit der Autoren, die angeblich immer nur den eigenen Bauchnabel umkreisen und deswegen nichts vom echten Leben und der echten Welt mitbekommen. Die Welt sei so groß, so Krieg, so Finanzkrise, so der totale Wahnsinn, dass alles Erfundene, alles aus einem kleinen Schriftstellerhirn hervorfantasierte ohnehin nur läppisch sein könne. Pah, stöhnte es aus einer der Todesanzeigen verächtlich: Fiktion ist ja so was von over. Der Roman ist an seiner Fiktionalität gestorben ! Interessant.

Andere diagnostizierten, der Roman habe verenden müssen, weil er so allgegenwärtig sei. Jeder Politiker, Schlagersänger oder Polizist, so die These, veröffentlicht Romane, die den Namen freilich nicht verdienen, weil sie aus Fertigbauteilen des realistischen Erzählens, aus stupider Kulissenschieberei bestehen, runtergetippt nach Wie-schreibe-ich-einenKrimi-Anleitungen. Romanschreiben als Hobby, zur Entspannung. Wie Malen nach Zahlen. Der Roman, las ich, sei an seiner auf pure Unterhaltung getrimmten Formelhaftigkeit erstickt.

Es lebe die literarische Reportage!

Wie die meisten Nachrufe versuchten auch diese, Trost zu verbreiten. Die Fiktion ist tot, aber der literarische Geist ist noch da! Er sei aus dem faulenden Romanleib in ein anderes Genre, die literarische Reportage gewechselt und dort quicklebendig. Es lebe die literarische Reportage! Die Kriegsreportage, Bankenkrisenreportage, Dritte-Welt-Reportage. Schriftstellerreporter, die dorthin reisen, wo es wirklich wehtut, um dem Weltwahnsinn den panischen, techno-archaischen, den wahren Herzschlag der Gegenwart abzulauschen: Dies seien die Tolstois von heute. Fakten, Geschichte, rohe Wirklichkeit.

Ich blickte auf. Noch immer saß ich im Auto vor einer Berliner Schule. Der Verkehr rauschte vorbei, Menschen warteten an der Bushaltestelle. Obwohl die Bäume in herrlichem Herbstgold leuchteten, schien der Rest von einem Grauschleier überzogen. Ich nahm den Tolstoi zur Hand, vorsichtig, als sei er plötzlich wertvoll wie eine Bibel aus dem Mittelalter. „Tage, Wochen, zwei Monate abgeschiedenen Landlebens vergingen unmerklich, wie es damals schien, indes hätten die Gefühle, die Aufregungen und die Glücksmomente dieser zwei Monate für ein ganzes Leben gereicht.“

Ich blätterte.

Der Roman ist tot - Es lebe der Roman

„ ,Ich will nicht leben spielen, ich will leben ... ebenso wie du.‘ Auf seinem Gesicht, das immer alles so schnell und lebhaft widerspiegelt, zeigten sich Schmerz und konzentrierte Aufmerksamkeit.“ Solche Szenen würde es also nie wieder geben. Ich war untröstlich. Wenn der Roman tot war, war auch die literarische Figur verendet. Die erfundene Figur, in der sich, wenn gelungen, wie durch ein Wunder die Wirklichkeit „so schnell und lebhaft widerspiegelte“. Und der fiktive Raum mit seiner besonderen Luft, klar und kristallin, angereichert von Ahnungen und Anspielungen: auch abgeschafft. Und das eigenwillige Romanlicht, in dem Figuren wie durchsichtig erscheinen und trotzdem nichts von ihrem Geheimnis verlieren. Um den Raum tat es mir besonders leid. Was ist ein Roman anderes als der fiktive Raum, in dem sich eine Handlung entfaltet, um Figuren in Bewegung zu setzen und über Konflikte neue Facetten von ihnen ins Licht zu rücken. Handlung, Raum, Figur, letztlich alles eins, um so etwas wie – ich zögerte, das altmodische Wort auch nur zu denken – Entwicklung in Szene zu setzen. Oder um sie scheitern zu sehen.

Atmende Säulen aus Fleisch und Knochen

Ich saß ganz still. Irgendetwas stimmte nicht mit der These vom Tod der Fiktion, aber ich wusste nicht was. Seit ich Besitzer eines Smartphones bin, fällt mir das Denken schwer. Aber ich wollte die Lösung nicht im Internet finden, ich wollte selber denken, wie früher, in den Neunzigern. Die Wartenden draußen sahen noch immer grau aus. Eingepackt in Mäntel und Daunenjacken, starrten sie trübe vor sich hin. Lebendig, ohne Zweifel. Wirklich. Aber mehr auch nicht. Sie schienen weder Wünsche noch Ziele zu haben, sie schienen – und deshalb war ihre Anblick so gespenstisch – keinerlei Bewusstsein, keine Idee von sich zu besitzen. Atmende Säulen aus Fleisch und Knochen, die darauf warteten, zur Arbeit transportiert zu werden. Ich war ratlos. Entwicklung, murmelte ich.

Dann fiel es mir ein. Die Wartenden sahen so gespenstisch aus, weil mit dem Tod der Fiktion auch alle fiktiven Anteile ihres ansonsten realen Lebens erloschen waren. Die Tagträume und Erinnerungsschollen, die permanent durch unser Bewusstsein treiben, genauso wie die Erwartungen, von denen unser Alltag durchzogen ist, das Bild von uns als jemandem, der Erfahrungen macht und lernt und sich also entwickeln und verändern – und möglicherweise auch ein ganz anderes Leben führen könnte. Die fiktiven Mikro- und Makrostrukturen, die das durchwirken, was wir die Wirklichkeit zu nennen gewohnt sind, haben sich in Luft aufgelöst. Das macht die Menschen zu Zombies.

Ach. Stille. Menschen sind keine Zombies. Sie träumen, wünschen und glauben nun mal an Veränderung. An die Möglichkeit eines besseren oder anderen Lebens, und solange das so ist, werden sie auch ihre Träume und Wünsche in Geschichten fassen und umgekehrt von ihren Enttäuschungen und Lügen und den Grausamkeiten des gar nicht so glücklichen Lebens erzählen. Und genauso lange ist Fiktion alles andere als over und der Roman auch nicht tot – auch wenn er sich möglicherweise verändern wird.

Der Roman ist tot? Ich lach mich tot, ruft der Buchhändler

Das war’s. Die Toten lebten wieder. Ich brauchte nicht einmal aufzuschauen, um zu wissen, dass die Menschen an der Bushaltestelle wieder normal aussahen. Dafür griff ich wieder nach dem Smartphone und tippte: Tod des Romans. Jetzt – wie fiktional ist das denn? – listete die Suchmaschine viel positivere Artikel. Auf „ Zeit Online“ war schon 2010 zu lesen, dass der Roman nicht sterbe, nur sein Stellenwert ändere sich. „Aussagen über den Tod oder das Verschwinden kultureller Formen verraten mehr über die Personen, die solche Aussagen treffen, als über das Objekt solcher Aussagen.“ Vor allem Männern ginge es beim Todesdiskurs darum, „etwas zu erzeugen, das man mit einem kulturellen Naturschutzgebiet vergleichen kann, einem geschützten Raum“, in dem das Genre fortbestehen könne.

Das Totsagen hat also vor allem den Zweck, in der Pose des Sehers über das Schwinden des eigenen Einflusses zu jammern – und im Windschatten dieses Alarmismus in Ruhe weiter Romane schreiben zu können.

Epilog in der Buchhandlung: Der Roman ist tot. Schon gehört? Ich lach mich tot, ruft der Buchhändler, springt hinter seinem Computer hervor, geht an schwankenden Sachbuchtürmen vorbei und zeigt auf ein Buch, von dem es nur noch drei Exemplare gibt. John Lanchester. Kapital. Roman. Bankenkrise, Immobilienwahnsinn, Migrationselend, Fußballglück, alles drin. Und wird in allen Blättern als Roman des Herbstes gefeiert.

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