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Kultur: Leichen fleddern

Peter von Becker über eine LiveSektion als pathologisches Theater Nur noch milde Schauder jagen den Besuchern der großen Azteken-Ausstellung in der Londoner Royal Academy die irdenen oder metallischen Messer und Schalen ein, mit denen die Priester einst zuckende Herzen aus lebenden Menschen schnitten und sie dem Sonnengott zum Opfer darboten. Die Zeugnisse der von den Spaniern ausgerotteten Azteken-Kultur sind in London seit letztem Wochenende zu sehen – doch ein Menschenopfer soll es nun auch noch geben in der britischen Hauptstadt: am morgigen Mittwoch, in der aus Deutschland bereits wohlbekannten Ausstellung „Körperwelten“ des Anatomen Gunther von Hagens.

Peter von Becker über eine

LiveSektion als pathologisches Theater

Nur noch milde Schauder jagen den Besuchern der großen Azteken-Ausstellung in der Londoner Royal Academy die irdenen oder metallischen Messer und Schalen ein, mit denen die Priester einst zuckende Herzen aus lebenden Menschen schnitten und sie dem Sonnengott zum Opfer darboten. Die Zeugnisse der von den Spaniern ausgerotteten Azteken-Kultur sind in London seit letztem Wochenende zu sehen – doch ein Menschenopfer soll es nun auch noch geben in der britischen Hauptstadt: am morgigen Mittwoch, in der aus Deutschland bereits wohlbekannten Ausstellung „Körperwelten“ des Anatomen Gunther von Hagens. Dabei soll natürlich kein Lebender unters Messer kommen, nur der konservierte Leichnam einer unlängst verstorbenen jungen Frau.

Hagens will die Tote, assistiert von einem britischen Kollegen („ich bin ja kein Fachpathologe“), vor 500 Zuschauern, die knapp 20 Euro Eintritt bezahlen, aufschneiden und dann öffentlich obduzieren. Die Verstorbene, eine 33-jährige Deutsche, habe ihre Organe dem Präparator zur späteren „Plastifikation“ vermacht, und die Angehörigen hätten einer Obduktion zugestimmt, weil sie die genaue Todesursache ihrer zuvor an Epilepsie leidenden Verwandten erfahren wollten. Damit ist dem Gesetz in Großbritannien offenbar genüge getan. Und von Hagens, dem Millionen Leichenschaulustige und die Vermarktung seiner ausgestellten Totenteile in vielerlei Fanartikeln noch immer nicht zu reichen scheinen, sorgt für ein neues Spektakel. Unterm Signum von Kultur und Aufklärung.

Der Frankenstein will ja ein Künstler sein. Das sagt er selbst und verweist, nie ohne seinen schwarzen Django-Beuys-Hut auftretend, auf die (damals kirchlich verbotenen und für den Künstler lebensgefährlichen) anatomischen Studien und geheimen Sektionen Leonardo da Vincis. Zudem postuliert der Pathologe aus Leidenschaft eine Art Menschenrecht auf die Innenansicht unserer Spezies. Warum, so fragt Hagens, besorgt um Demokratie, Transparenz und Allgemeinbildung, sollten die menschlichen Innereien nur Fachwissenschaftlern und Medizinstudenten zugänglich sein.

Warum senden wir nicht direkt aus Gerichten, Polizeistationen und Gefängnissen, warum haben wir noch nicht regelmäßig die Fernsehkameras in Bordellen, Psychiatrien, Operationssälen, warum übertragen wir nicht auch Tiertötungen und Metzgereien aus unseren Schlachthöfen (auf dass Köche, Hausfrauen und Verbraucher fachkundig an der Fleischtheke stehen), warum nur, warum? Weil es noch Reste gibt von menschlicher Scham, von religiösem oder ethischem Respekt, von zivilisatorischer Vernunft. Vivisektionen sind verboten, weil Lustmord nicht erlaubt ist. Wohl aber Live-Sektionen zur neuen Volksbelustigung.

Man muss auf Hagens geschäfts- und mediengeile Scheinheiligkeit nicht tiefer eingehen. Denn was mit der nackten jungen Toten, deren Körperumriss der Leichen-Aussteller vorab schon den Fotografen präsentierte, in London morgen geschehen soll, ist posthume Prostitution. Leichenfleddern. Nicht, dass wir das Lebend-Opfer der Azteken zurückwünschen. Uns würde das schon reichen: Montezumas Rache.

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