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Wiederbelebung eines Mannes, der übers Ägäische Meer nach Lesbos geflohen ist.

© AFP

Lesbos und die Flüchtlingskrise: Europa, vom Rande betrachtet

Ansichten einer peripheren Insel: Wie zivilgesellschaftliche Solidarität mit den Flüchtlingen den Zusammenhalt der Bewohner von Lesbos stärkt.

Am 4. November rief die Stadtverwaltung von Mytilene, der Hauptstadt der ägäischen Insel Lesbos, zu einer dreitägigen Traueraktion auf. Sie wollte damit an die Flüchtlinge erinnern, die die Küste von Lesbos nicht mehr lebend erreicht hatten. Unter Beteiligung der Kirche fand am Mahnmal der „Kleinasiatischen Mutter“ eine Gedenkfeier statt – in durchaus kollektiver Geschichtserinnerung. Denn ein beträchtlicher Teil der Einwohner von Lesbos sind Nachkommen von Flüchtlingen des griechisch-türkischen Kriegs, im Nationalnarrativ der „Kleinasiatischen Katastrophe von 1922“. Zudem ging es um die symbolische Zuerkennung des Flüchtlingsstatus für Menschen, die gewöhnlich als illegale Grenzgänger behandelt werden.

Es war nicht das erste Mal, dass ein Stadtoberhaupt in Lesbos der Toten gedachte. Schon im März 2014 hatten sich der damalige Bürgermeister und Vertreter der Stadtverwaltung an der Beerdigung einer fünfköpfigen Familie syrischer Herkunft beteiligt. Die Initiative zu diesen Trauerzeremonien geht indes auf die lokale Zivilgesellschaft zurück. Als im Dezember 2012 viele Flüchtlinge vor der Küste ertranken, veranlassten die Einheimischen ein würdiges Begräbnis und verhinderten die geplante „Entsorgung“ der Leichname in einem Massengrab.

Unter den 2900 Menschen, die laut Berichten des UNHCR zwischen Januar 2015 und Anfang September im Mittelmeer ertrunken sind, waren viele Frauen und Kinder. Inzwischen ist die Zahl der in der Ägäis zu Tode Gekommenen dramatisch gestiegen. Allein am 28. Oktober starben bei einem Schiffsunglück nördlich von Lesbos 42 Menschen, darunter 20 Kinder. Genaue Zahlen erfährt man selten.

Kinderlächeln oder Liebesblicke werden zur Lebensbotschaft

Zwar werden die Ankünfte, die in diesen Tagen vermutlich wegen des Wintereinbruchs deutlich zurückgehen, systematisch registriert, nicht aber Unglücksfälle. Eine in Booten zusammengepferchte oder in Konvois laufende Menschenmasse; eine Menschenschlange, die vor den Registrierungszentren steht oder auf die Essensverteilung wartet: Das ist das Bild, das die Massenmedien allzu häufig vermitteln. Die lokalen und die sozialen Medien bringen dagegen eher individuelle Geschichten ans Licht. Dabei werden das Lächeln der geretteten Kinder oder die liebeserfüllten Blicke des jungen Paars, nachdem sie die Küste erreicht haben, zur Lebensbotschaft für die Einheimischen selbst.

Die Solidaritätsaktion der Bewohner von Lesbos blieb weitgehend unbemerkt von der internationalen Öffentlichkeit. Sie wurde überdeckt von den Bildern der überforderten Küstenwache und vor allem von den Fähren, die die Flüchtlinge, sind sie erst einmal registriert, weiter nach Piräus bringen sollen – und damit näher an Mittel- und Nordeuropa heran. Lesbos geriet erst in den Fokus, als die Zahlen der Flüchtlinge, die über die Ägäis Mitteleuropa zu erreichen versuchen, erheblich gestiegen waren. Auf einmal wurde die Insel in ihrer Eigenschaft als poröse EU-Grenze wahrgenommen, an der eine humanitäre Krise mit chaotischen Zuständen sichtbar wird.

Die Insel ist marginalisiert, eine Randregion des Athener Staats

Haben die Toten und die mangelhaft untergebrachten und verpflegten Flüchtlinge auch mit einem Mangel an Hilfsgeldern zu tun? Denkt man an das im September 2013 eingerichtete Inhaftierungslager, das mit mehreren Millionen Euro, meistens aus EU-Fonds, finanziert wurde, trifft dies wohl kaum zu. Auch der von griechisch-nationalen Fonds finanzierte Zaun an der nordöstlichen Grenze zur Türkei war kein billiges Unternehmen. Er bewirkte jedoch schließlich nichts anderes als die Umleitung der Fluchtwege ins Ägäische Meer.

Die lange steigenden Flüchtlingszahlen haben die Marginalisierung der Insel ans Licht gebracht: die virtuelle und infrastrukturbedingte Distanz einer südeuropäischen Randregion zum Athener Staat und zu den europäischen Metropolen. Vor Ort setzen sich Zivilakteure, Aktivisten und Volontäre aus ganz Europa für die Flüchtlinge ein. Wobei deren Rettung und Verpflegung noch immer größtenteils dem Einsatz der Bürger überlassen bleibt.

Fischer führen Rettungswachen durch, Zivilisten und freiwillige Ärzte bieten den Neuankömmlingen Erste Hilfe und Versorgung. Als Fortsetzung des im Juni 2015 symbolisch organisierten Autokonvois, in dem Bürger die zu Fuß laufenden Flüchtlinge aus der ganzen Insel in die Unterkünfte transportierten, haben nun Hilfsorganisationen Busse zum selben Zweck eingesetzt. Das Engagement hat nicht zuletzt mögliche Gewaltausbrüche seitens der neonazistischen Partei „Goldene Morgenröte“ gehemmt.

Der Solidaritätseinsatz auf Lesbos hat bereits Tradition. Im Herbst 2012, als eine Gruppe von Bootsflüchtlingen auf Lesbos strandete und sich vor dem Stadttheater aufhielt, bestand die erste Reaktion der lokalen Bevölkerung darin, dass sie die Neuankömmlinge mit dem Lebensnotwendigen versorgte. Bürger forderten die Stadtverwaltung auf, Unterkünfte für sie bereitzustellen. Als die Stadtverwaltung ihnen nicht entgegenkam, ergriffen wiederum Einheimische die Initiative und brachten die Flüchtlinge in einer ehemaligen Kinderferienanlage namens Pikpa unter. Inzwischen hat sich Pikpa zur ersten selbstverwalteten, offenen Flüchtlingsunterkunft unter der Schirmherrschaft der Zivilgesellschaft entwickelt. Seitdem fanden dort Tausende Schutz.

Schon dieses Projekt veranschaulicht die Paradoxie der Errichtung eines Internierungslagers auf Lesbos im September 2013. Dorthin wurden die Menschen deportiert, die in der offenen Unterkunft tagelang auf ihre behördliche Registrierung gewartet hatten. Waren die meisten wieder auf freiem Fuß, fanden sie erneut Schutz und Verpflegung in der früheren Ferienanlage, bis sie die nächste verfügbare Fähre nehmen oder auf die Überprüfung ihrer Asylanträge warten konnten.

Was ist der praktische Sinn der Errichtung eines Internierungslagers für diejenigen, die sich sonst auf der Insel aufhielten und auf die behördliche Registrierung warteten? Und was wird aus den Investitionen werden, wenn sich die Fluchtrouten erneut verschieben, angesichts der fortbestehenden Fluchtursachen? Die Antwort des zuständigen staatlichen Vertreters brachte die Prioritäten der Grenzpolitik zum Vorschein: Die Anlage, erklärte er, sei abbaufähig und leicht woandershin zu transportieren.

Grenzüberwachung statt Rettung von Flüchtlingen? Die anhaltende Solidarität von Bürgern am Rande des europäischen Kontinents kann dazu beitragen, das Bild von den angeblich bedrohlichen Flüchtlingen zu korrigieren.

Die griechische Soziologin Sevasti Trubeta lehrt an der Universität der Ägäis auf Lesbos. Derzeit hat sie eine Gastdozentur am Centrum Modernes Griechenland der Freien Universität Berlin.

Sevasti Trubeta

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