zum Hauptinhalt
Traum von der Antike. Karl Friedrich Schinkel malte 1825 „Blick in Griechenlands Blüte“. Diese Kopie von August Wilhelm Julius Ahlborn aus dem Jahr 1836 hängt in der Alten Nationalgalerie Berlin. Foto: culture-images

© culture-images/fai

Leseempfehlungen für Griechenland: Auch wir in Arkadien!

Ferienbeginn – Krisenende? Statt einer Reisewarnung gibt es hier Leseempfehlungen für Griechenland.

Von Gregor Dotzauer

Der Reisende:

KONSTANTINOS KAVAFIS

Verschlungen sind die Wege, auf denen Gedichte durch die Jahrhunderte reisen. Während die meisten Zeilen schon auf den ersten Metern liegen bleiben, werden andere auf wundersame Weise immer wieder aufgelesen. „Ithaka“ etwa, das berühmteste Gedicht von Konstantinos Kavafis, ist, seit es im November 1911 erstmals erschien, auf Wanderschaft. Es hat sich, indem es das Unterwegssein zum wahren Ziel erklärt, gewissermaßen selbst auferlegt, niemals anzukommen. So haben Marguerite Yourcenar, Giuseppe Ungaretti oder Joseph Brodsky die Kavafis eigene Mischung aus poetischem Rausch und narrativer Nüchternheit weitergereicht. Paulo Coelho hat es als Motto seines Roman „Der Zahir“ Millionen präsentiert, und die Werber der Berliner Agentur Atletico International haben es sogar einem TV-Spot für den Seat Exeo unterlegt.

Und was reist im Schatten dieses einen Gedichts nicht alles mit: der zehnte Gesang von Homers „Odyssee“, den wiederum Kavafis mit „Ithaka“ durch die Jahrtausende trug, das zweitberühmteste Gedicht „Warten auf die Barbaren“, das J.M. Coetzee im Titel seines gleichnamigen Romans beschwor, und der Mythos eines Dichters, der sein Griechenland vor allem im Herzen trug. Konstantinos Kavafis, 1863 im ägyptischen Alexandria geboren und dort 30 Jahre lang ein braver Beamter im Ministerium für Wasserwirtschaft, kannte Athen und den Rest des Landes nur von Besuchen – was ihm die Verklärung der Antike als Modell eines noblen Miteinanders wohl erst ermöglichte. Blind für die arabische Kultur, die ihn umgab, zog er nach Dienstschluss durch die Bars und Kaffeehäuser seiner Heimatstadt und sang das wollüstige Lied der jungen Männer, die er dort beobachtete. Kavafis lebte auch einen Teil seiner schwulen Leidenschaften. Die Universalität seines schmalen Werks kommt indes aus einem tiefen Vergänglichkeitsbewusstsein – und einem ungewöhnlich en Sinn für das Körpergedächtnis: „Körper, erinnere dich nicht nur daran, wie oft du geliebt wurdest, / Nicht nur an die Betten, in denen du lagst, /Sondern auch an das Verlangen nach dir,/ Das aus offenen Augen strahlte“. Gregor Dotzauer

Der Philosoph:

NIKOS DIMOU

Sensation! 1:0 für Griechenland! Das Länderspiel gegen Deutschland gewinnen die Außenseiter in letzter Minute durch ein Kopfballtor von Sokrates. Die Flanke kommt vom Libero Aristoteles, vorausgegangen war Archimedes’ Ruf „Heureka!“, weil er erkannt hatte, dass man den Ball einfach vom Anstoßpunkt in die gegnerische Hälfte treten muss. Die Deutschen, mit „Bulle“ Hegel, Schelling und – Überraschung! – Beckenbauer im Mittelfeld sowie den Torjägern Nietzsche und Heidegger, wurden nach 89 balllos ausgetragenen Minuten überrannt. So endet das Match im Sketch aus Monty Pythons „Flying Circus“: mit einem Geistesblitz.

Nikos Dimou ist Philosoph und Skeptiker. In seinem wunderbaren Essay-Bändchen „Über das Unglück, ein Grieche zu sein“ (Deutsch von Maro Mariolea, Verlag Antje Kunstmann, 72 S., 7,95 €) behauptet er, dass die Misere seiner Landsleute begann, als sie sich von ihren klassischen Denkern abwandten. Die „ewige Neigung zur Übertreibung“ gehöre zum Nationalcharakter. „Ein Grieche tut alles, was er kann, um die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu vergrößern“, lautet einer seiner knapp 200 Aphorismen, die Dimou erstmals 1975 veröffentlichte. Wenn ein Grieche in den Spiegel schaut, sieht er Alexander den Großen oder Onassis, aber niemals den Karagiosis, eine hässliche, verschlagene Schattenspielfigur türkischen Ursprungs. Dessen einziges Talent ist die Schauspielerei.

Und die Identität der Griechen? Sind sie die Europäer des Orients oder die Orientalen Europas? „Wann immer ein Grieche von Europa spricht, schließt er automatisch Griechenland aus. Wenn ein Ausländer von Griechenland spricht, ist es undenkbar für uns, dass er Griechenland nicht mit einschließt.“ Gibt es Hoffnung auf Besserung? Nikos Dimou: „Andere Völker haben Institutionen. Wir haben Luftspiegelungen.“ Christian Schröder

Der Landschaftenmaler:

GIORGOS SEFERIS

Es sind die in ihrer Einfachheit rätselhaften Dinge, die Giorgos Seferis, erster Literaturnobelpreisträger Griechenlands, in seinen Gedichten nicht eigentlich beschreibt, sondern aufruft: Das Meer, der Berg, das Haus, die Insel. Die „Dinge sind“, nennt das Christian Enzensberger im Nachwort eines Bandes mit dem schlichten Titel „Poesie“. Zum Griechenland-Werbeprospekt fehlt nur noch die Sonne, der Strand, der Ouzo, möchte man ketzerisch hinzufügen. Die Dinge sind – aber so verkappt naturpoetisch sind sie dann doch wieder nicht.

Giorgos Seferis’ Idylle ist trügerisch. Nur selten liegt auf der kargen, steinigen Landschaft eine „Ruhe, die wunder nimmt“. Viel häufiger atmen dagegen die Bäume bei ihm „die schwarze Stille der Toten“. Mit Adjektiven ist Seferis geizig. Wenn er sie benutzt, dann nimmt er immer dieselben: verdorrt, verlassen, zerbrochen. „Drei Felsen ein paar verdorrte Föhren eine verlassene Kapelle.“ Eine verlassene Kapelle! Es gibt also auch Menschen in seinen Gedichten, genau genommen sogar zwei Arten: Die Alten (womit die ganz Alten, Göttergleichen und die Ahnen aus näherer Kriegszeit gemeint sind), die sind aber schon lange weg oder tot. Und die Jungen, Heutigen, die „auszogen zu dieser Pilgerfahrt“, aber immer zu spät kommen und nichts vorfinden außer „zerbrochenen Statuen“.

Die Ahnung einer zurückliegenden Katastrophe liegt über diesen Landschaften, deren vertraute Schönheit den Schmerz über den Verlust nur vergrößert. Giorgos Seferis, 1900 in der Nähe des heutigen Izmir geboren und mit vierzehn Jahren nach Athen vertrieben, arbeitete jahrzehntelang als griechischer Diplomat überall in der Welt, ohne das Land, das er repräsentierte, ohne seine Heimat Griechenland je gefunden zu haben. So schrieb er: „Unser Land ist verschlossen, nichts als Berge, auf denen Tag und Nacht die niedrige Decke des Himmels liegt.“ Erst unter der Junta richtete sich seine allgemeine Klage gegen ein konkretes Regime. Auf seiner Beerdigung 1971 sangen Tausende seine von Theodorakis vertonten Verse als Lieder des Widerstands. Andreas Schäfer

Die Kapitänin:

IOANNA KARYSTIANI

Groß und unstillbar muss im August 1994 am Fuße des Olymps die heimliche Liebe der Reiseleiterin gewesen sein. Innerhalb der deutschen Wandergruppe hatte sich ihr Begehren auf den einzigen ledigen Mann diesseits des Rentenalters gerichtet, der davon jedoch nichts ahnte. Grimmig betrank sich Dimitra mittags mit Ouzo und fiel alsbald in Ohnmacht. So kam es, dass ihre des Griechischen unkundigen Schützlinge sie durch den Wald tragen mussten, bis ihnen in einem kleinen Haus Hilfe gewährt wurde. Dimitra erwachte wieder, doch ihre Verstimmung ließ sie uns, die ihr anvertrauten Wanderer, weiterhin spüren. Auch ihre Melancholie machte die Reise unvergesslich.

Wer wüsste von den Sehnsüchten der Griechinnen besser zu erzählen als Ioanna Karystiani? Ihr Roman „Die Augen des Meeres“ (übersetzt von Michaela Prinzinger, Insel Taschenbuch, 305 S. 8,95 €). ist eine zeitgenössische Adaption der Odyssee, in der die Frauen den Spieß umdrehen. Denn die Kapitänsfrau Flora ist es leid, sich von ihrem Mann Mitsos Avgoustis nach zwölf Jahren Abwesenheit auf den Weltmeeren noch länger vertrösten zu lassen. Lieber holt er im japanischen Kobe eine Kaffeekanne für sie ab, als endlich zur Familie zurückzukehren.

Nach Jahrzehnten auf See plagt ihn die Ungewissheit vor den ersten Schritten „auf einem längst vergessenen und veränderten Festland, Schritten in ein Leben, dem er nicht länger ausweichen konnte“. Auch seine Geliebte Litsa wünscht der Kapitän sich inzwischen eher als Brief- denn als reelle Partnerin. Schließlich begibt sich Flora heimlich an Bord des Frachters „Athos III“, auf dem sich wie in der gleichnamigen Mönchsrepublik nur Männer aufhalten – und ein Kater. Ioanna Karystiani schildert diese Kaperung eines männlichen Mythos mit parodistischer Verve, die der Sehnsucht viel Raum lässt. Katrin Hillgruber

Der Schattenanbeter:

ODYSSEAS ELYTIS

Es gibt seine „Neuen Gedichte“, erschienen in der Bibliothek Suhrkamp: In besonders guten Buchhandlungen findet man sie seitab im besonders schönliterarischen Regal. Oder den lyrischen, von Mikis Theodorakis zum Oratorium vertonten Zyklus „Axion Esti“, womit Odysseas Elytis in den sechziger Jahren weltberühmt wurde: Kann man da und dort im Internet bestellen. Es sind die Langgedichte, epische Feiern der Sprache – ein bisschen zu episch allerdings für mich, den gewöhnlichen banausos giornalistikós. Romane dürfen gerne Sätze haben, die sich dialog- und absatzlos über Seiten winden. Gedichte mag ich kurz.

Auch Odysseas Elytis, geboren 1911, hat als Lyriker eher kurz angefangen – mit Anfang, Mitte zwanzig, bevor der Weltkrieg und der anschließende griechische Bürgerkrieg sein Leben verschatteten. Und lange bevor er einer der bedeutenden Würdenträger mediterran leuchtender Dichtung wurde, ausgezeichnet 1979 – als zweiter Grieche nach Giorgios Seferis – mit dem Nobelpreis für Literatur. Aus Elytis’ Frühzeit besitze ich, woher nur und seit wann und unverloren, die „Sieben nächtlichen Siebenzeiler“: Mit etwas Glück kann man das 1966 im Darmstädter Bläschke Verlag erschienene Bändchen noch sehr, sehr antiquarisch kriegen.

Solche Bücher macht heute eigentlich niemand mehr. Sonnengelber Einband, schlichteste Broschur, Rückseite gänzlich leer – und weil das Ding ohnehin millimeterdünn ist, hat man auf Seitenzahlen gleich ganz verzichtet. Links die schöne neugriechische Kalligrafie, rechts die linear sorgfältige Übersetzung von Günther Dietz, so einfach geht das. Und so einfach geht Nummer drei der „Efta nichterina eftasticha“: „Alle Zypressen weisen auf Mitternacht / Alle Finger / Ins Schweigen // Vom offenen Fenster des Traums / Entfaltet sich langsam / Geständnis / Und strebt wie ein Bild zu den Sternen.“

So tönt mein Lieblingssiebenzeiler dieser fein der Schlaflosigkeit abgelauschten Nachtstückchen. Er ist so einfach wie vollkommen – weil er ganz von selber im Gedächtnis bleibt. Jan Schulz-Ojala

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false