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Kultur: Letzte Worte vor dem Anpfiff

Wünsche und Verwünschungen, Poesie und Prophetie – Schriftsteller stellen sich für den Tagesspiegel zur WM auf

In den Siebzigerjahren taten mir die Holländer zweimal so leid, dass ich fast weinen musste. Sie waren die Besten, denn sie krempelten das SPIEL völlig um. Sie waren genial, ein ganzes Sternbild von Fußballgenies. Beide Male verloren sie im Finale nur, weil ihnen beide Male die Gastgeber gegenüberstanden, denen sogar die Bande half. Von den Schiedsrichtern ganz zu schweigen. Logisch, dass auch sie den Gastgebern halfen. 1974 den Deutschen, 1978 den Argentiniern. Meine orangefarbenen Lieblinge waren eindeutig stärker als beide Gegner, aber Weltmeister wurden sie nicht.

Dafür aber befruchteten sie mit ihren innovativen Ideen den ukrainischen Trainer Lobanowski, damals noch jung, schlank und nervös wie der Dirigent eines Sinfonieorchesters. Unter dem holländischen Einfluss schuf Lobanowski Mitte der Siebzigerjahre die wunderbare Mannschaft von Dynamo Kiew. Im Frühjahr 1975 holten sie sich den Europapokal der Pokalsieger, wobei sie sogar ihre holländischen Lehrmeister vom PSV Eindhoven schlugen, und im Herbst desselben Jahres den Supercup. Franz Beckenbauer erinnert sich bestimmt an diese Spiele. Dynamo hat gegen den FC Bayern zweimal gewonnen, und alle drei Tore schoss eben jener Blochin, der jetzt bei der WM die ukrainische Nationalmannschaft trainiert.

Seitdem sind hundert Jahre vergangen, und ich habe verlernt, nach der Niederlage meiner Mannschaft zu weinen. Fußball ist ein interkontinentales Imperium geworden, und für das Wunder bleibt immer weniger Raum. Auch die Holländer sind nicht mehr dieselben – jedenfalls längst nicht genial. Trotzdem aber bin ich ihr heimlicher Fan. Vielleicht gefallen mir einfach ihre orangefarbenen Trikots.

Juri Andruchowytsch ist der bekannteste Schriftsteller der Ukraine. („Das letzte Territorium“) und gilt als geistiger Wegbereiter der „Orangenen Revolution“. Bei der Leipziger Buchmesse 2006 erhielt er den Preis für Europäische Verständigung (Übersetzung aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr).

Zum Fußball kann ich wirklich nichts sagen, obwohl ich schon so viel dazu gesagt habe. Ich bewundere die Eleganz und die Schnelligkeit, mit der diese Leute herumrennen, und auch die Heimtücke, mit der sie einander in die Fresse hauen und in die Schienbeine treten. Aber ich habe, da ich die Regeln nicht kenne, leider große Schwierigkeiten, dem Spiel zu folgen, obwohl ich mich seiner Dramatik bei wichtigen Matches nicht entziehen kann. Ich brauche ja endlos, bis ich überhaupt kapiere, wer wer ist und wohin sie rennen, und nach der Pause ist dann alles umgedreht. Ich fürchte, meine Intelligenz reicht für dieses Spiel nicht aus.

Die Autorin ist Literaturnobelpreisträgerin. Eine im Rahmen des WM-Kulturprogramms geplante Opernfassung ihres „Sportstücks“ zur Musik von Ennio Morricone konnte an der Berliner Staatsoper nicht realisiert werden.

Wenn die WM endlich beginnt, ist sie für mich im Großen und Ganzen vorbei. Nach drei Jahren allzu häufiger Beschäftigung mit dem Thema Fußball bricht ab dem 10. Juni die gnadenreiche Zeit gänzlich anderer mich inspirierender Themen an. Und natürlich wünsche ich mir den ersten Weltmeister aus Afrika.

André Heller ist Leiter des WM-Kulturprogramms. Sein „Afrika, Afrika“-Zirkus gastiert ab 29. Juni auch in Berlin.

von den trikots, die ausgezogenen

von den mannschaftsteilen, die verschobenen

von den pfiffen, die unverständlichen

von den schwalben, die unverwendlichen

von den stürmern, die abseitigen

von den hoffnungen, die halbzeitigen

von den strafräumen, die unbeherrschten

von den abwehrketten, die angeherrschten

von den torwarten, die zweiten

von den fouls, die gutgemeinten

von den elfmetern, die nicht mittigen

von den fehlentscheidungen, die nicht strittigen

von den jubeln, die ungleichzeitigen

von den spucken, die beiderseitigen

von den torschüssen, die abgefälschten

von den siegen, die unverfälschten

von den handspielen, die gottgegebenen

von den spielern, die daheimgebliebenen

von den engländern, die mittelfussknochen

von den herzen, die gebrochenen

von den trainer, die geflogenen

von den spielen, die gebogenen

von den deutschen, die schweinsteiger

von den bastians, die übersteiger

Albert Ostermaier ist Torwart der deutschen Schriftsteller-WM-Auswahl und hat soeben den Gedichtband „Der Torwart ist immer dort, wo es weh tut“ veröffentlicht.

Jede Mannschaft spielt nur so gut wie ihr Trainer ist. Er liest das Spiel wie eine Partitur. Er weiß, welches Instrument zu laut und welches zu leise spielt. Er muss die einzelnen Teile seines Ensembles so aufeinander abstimmen, dass eine Balance entsteht, die das gesamte Feld abdeckt. Er gibt das Tempo vor und zeigt die Tempowechsel an. Er greift nur ein, wenn es wirklich nötig ist, dann aber entscheidend. Er muss die Mannschaft so einstellen, dass sie wie von selbst zusammenspielt. Ganz schwer. Er macht Kräfte frei, die ohne ihn sich nicht entfalten könnten. Er bleibt bis zum Schluss an Bord. Er ist der Geist und die Seele. Er bleibt bei seiner Linie, auch wenn es eng wird. Er trägt Niederlagen mit Fassung und kennt den Preis seiner Siege. Und selbst wenn alle jubeln bleibt er allein in der Menge zurück. Ihm drücke ich die Daumen.

Ingo Metzmacher ist designierter Chefdirigent des Deutschen Symphonieorchesters Berlin und Autor des Buchs „Keine Angst vor neuen Tönen“. Er spielte im Team der Autoren-WM.

Gerade war es noch so still. Die Tribünen glotzten aufs Nichts, der Rasen war bloß grün, die Anlage nur Architektur. Auch der Ball lag unbelebt, Spielgerät halt, erst in Betrieb zu nehmen unter dem großen Anschwellen, der Ouvertüre, den Chören, stimmlosem Jauchzen, den Ritualen der Stammeskulturen, Beschwörungen und weiterem Anschwellen: Mach misch eine schöne Flanke! Christen vor die Löwen! Alles auf Siedepunkt! Jetzt den perfekten Spieler aus sich befreien, den entfesselten, auf den Torjubel zuspielenden, den Midas unter den Spielern, dem alles gelingt. Mit dem Anpfiff muss er seinen wahren Aggregatzustand finden, den Zustand der Entgrenzung, der Omnipotenz, in dem er seinen Mannschaftssport beherrscht wie einen Gang Bang mit Ball.

Doch noch ist alles still. Geht es gut, verlässt der Fußball das Feld der Ehre als Sonnenkönig, geht es schlecht und das Team spielte lustlos, scheint das ganze Leben von einer Vitalverstimmung getrübt. Dann gehen die Fans früh oder drehen sich mit den Rücken zum Platz oder recken Transparente mit der Aufschrift: „Danke für Nichts!“ So soll nicht gelebt und nicht gespielt werden. Also los, gegen den Nihilismus! Seitenwahl, Händedruck ringsum: Gutes Spiel! Gutes Spiel! Gutes Spiel! Gutes Spiel!

Roger Willemsen ist Autor des Bestsellers „Deutschlandreise“. Zuletzt hat er Guantanamo und Schauplätze der Taliban besucht („Hier spricht Guantanamo“, „Afghanische Reise“).

Natürlich: Wer gewinnt? Die Frage wurde in letzter Zeit oft gestellt, ich beantwortete sie bisher mit dem faden (und unprofessionellen!) „Brasilien“. Aber jetzt habe ich die Lösung! Sie ist einfach, schön, gerecht, vielleicht ein bisschen trivial. Also Ungarn wird endlich gewinnen! Man könnte formal und kleinkariert dagegen einwenden, Ungarn ist bei der WM gar nicht dabei. Aber wie die schwedische Volksweisheit sagt (oder der Kollege Per Olof Enquist), wenn man etwas wirklich will, dann bekommt man es. Also will ich! Einerseits. Anderseits: Ungarn hat jetzt so viel Chancen zu gewinnen, wie sie damals in Bern die Deutschen hatten …

Péter Esterházy, ungarischer Schriftsteller, hat nach seinem Welterfolg „Harmonia Caelestis“ und der „Einführung in die schöne Literatur“ soeben eine Fußballseelenerkundung veröffentlicht („Deutschlandreise im Strafraum“).

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