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Kultur: Leuchtspuren in der Nacht

Fantastisch: das Brad Mehldau Trio in Berlin

Von Gregor Dotzauer

Eine tiefe Verbeugung, eine Geste hin zu seinem Bassisten Larry Grenadier und Schlagzeuger Jeff Ballard – aber über zwei pausenlose Stunden lang kein Wort. Wenn Brad Mehldau sich im Flügel verkriecht, bleibt Musik die einzige Form der Kommunikation mit dem Publikum. Ansagelos verlieren die Stücke ihren Namen und ihre ursprüngliche Herkunft, und das ist richtig so, weil hier im Kammermusiksaal der Philharmonie nicht etwas Fertiges vorgeführt wird.

Die vertraute Ballade oder der vertraute Popsong sind nur der Ausgangspunkt, um über sie hinauszugelangen. So innig melodieselig manches beginnt, entfernt es sich doch schnell von allem, was man auf die Ausdeutung musikalischer Gehalte reduzieren könnte: Es zerbröselt, zerfasert und zerstiebt unter einem energetischen Prozess, der nach dem reinen Moment greift.

Eine aufs Äußerste konzentrierte kollektive Intelligenz durchquert die verschiedensten Klimazonen: die Freuden harmonischer Simplizität wie die Reize eines 6/4-Taktes mit Latin-Anklängen, Monksche Stolperthemen wie hymnische Ergriffenheit. Aber auch wenn ganz zum Schluss, bei der vierten Zugabe, John Coltranes „Countdown“, jenes rasende Etwas, das auf den Akkordfolgen von „Giant Steps“ beruht, seine Leuchtspur in den philharmonischen Nachthimmel zieht, wird nicht ein Klassiker zum Wiedererkennen zitiert, sondern nur ein Material benutzt, das in Andeutungen und Motivballungen den Augenblick durchpulst. „Countdown“ ist ein schönes Beispiel dafür, wie Brad Mehldau von Anbeginn seiner Weltkarriere musikalischen Stoff von Jahr zu Jahr weiter umwälzt: Von der Version, die er 1995, mit 25 Jahren, auf seinem Debütalbum einspielte, ist diese nicht Jahre, sondern Lichtjahre entfernt.

So fest Mehldau im Jazz verankert ist, so stark ist er bekanntlich der klassischen Musik verhaftet. Eine Brahms’sche Schwere, eine Schubert’sche Liedhaftigkeit (und eine romantische Seele, in der sich die deutsche Literatur eingenistet hat) besaß er immer schon. Doch sie wird zusehends überlagert von einer Bach’schen Polyfonie, die sich in den abstraktesten chromatischen Fantasien Bahn bricht und Mehldaus Markenzeichen – die für Jazzpianisten ungewöhnliche Unabhängigkeit von linker und rechter Hand – mit virtuoser Löwenpranke und lyrischer Transparenz in eine Form improvisierter Kunstmusik überführt. In Verbindung mit Ballards fein ziseliertem Beckenfeuer und Grenadiers solider Bassarbeit führt das, wie in Berlin, immer wieder zu Sternstunden. Gregor Dotzauer

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