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Kultur: Liebe Lüge

Eine Million Franzosen können nicht irren: Philippe Liorets „Keine Sorge, mir geht’s gut“

Vorsicht, diesen Text bitte gleich ins Dreisternefach legen und erst nach der Besichtigung des Films wieder auftauen! Denn im Folgenden wird vorsätzlich der Schluss verraten – obwohl sogar der Regisseur im Presseheft höchstpersönlich darum bittet, dem Zuschauer den „ungetrübten Filmgenuss“ nicht zu verderben. Nur: Was tun, wenn das Werk ohne die in seinem Schluss enthaltene Weltsicht gar nicht darstellbar ist? Was, wenn die Auflösung des ansonsten anspruchslos alltagsnahen Personen-Settings gar jedwede psychologische Vernunft auf den Kopf stellt?

Also: Die 19-jährige Lili (Mélanie Laurent) kommt aus den Sommerferien. Von ihren Eltern (Kad Merad und Isabelle Renauld), einem Mittelstandsehepaar mit Reihenhaus bei Paris, erfährt sie, dass ihr Zwillingsbruder Loïc verschwunden ist. Streit habe es zwischen ihm und Vater gegeben, und danach sei er einfach abgehauen. Lili zeigt sich verwundert, rechnet aber mit einem baldigen Lebenszeichen ihres geliebten Bruders. Als das ausbleibt, gleitet sie in eine Depression, weigert sich zu essen, kommt ins Krankenhaus, soll zwangsernährt werden, ist dem Tode nahe – und da trifft, wie vom Himmel gesandt, Loïcs erster Brief ein. Auf der inliegenden Postkarte nicht viel mehr als eine Kurznachricht: Ich tingele mit der Gitarre durch Frankreich. Papa ist ein Idiot. Und schöne Grüße an die Mama auch.

Briefe ähnlicher Inhaltsarmut treffen in den folgenden Wochen immer wieder ein. Lili beruhigt und erholt und verliebt sich in ihren Sandkastenfreund Thomas (Julien Bosselier), zieht von zu Hause aus, wird erwachsen. Ein Jahr vergeht, alles entwickelt sich zum Besten, nur Loïc fehlt weiterhin, weshalb Lili in den Ort an der Küste fährt, aus dem der letzte Brief kam. Ergebnis der Recherche: Der Vater selbst schreibt die Briefe und steckt sie da und dort in Frankreich ein. Loïc, umgekommen in jenem Sommer bei einem Kletterunfall, liegt längst auf dem Friedhof der Landgemeinde begraben, wo die Familie früher wohnte. Alles Lüge also. Aber: Alles Liebe. Lili versteht und verzeiht. Schließlich ist ihr unterdessen ein fester Freund zugewachsen.

Eine Art Happyend ist das. Nur: Was für ein absonderlicher Begriff von Elternliebe steht dahinter? Warum verschweigen sie ihrer Tochter den doch niemandem schuldhaft aufzubürdenden Unfalltod? Hat nicht auch die Tochter ein Recht auf das Wissen um die Nachricht, auf Erfahrung und Trauer – und auf den gemeinsamer Trauer innewohnenden Trost? Und: Ist es noch Liebe, wenn Eltern, aus welchem Anfangsmotiv auch immer, zunächst relativ ungerührt zusehen, wie die eigene Tochter fast umkommt?

Hm.

Andererseits.

Eine Million Franzosen haben den Film geliebt, und eine Million bekanntlich cinephile Franzosen können nicht irren. Zudem sind Kad Merad und die famose Hauptdarstellerin Mélanie Laurent unlängst mit Césars, den französischen Oscars, für ihren prächtigen Einsatz belohnt worden. Und tatsächlich ist der Film durchaus spannend und gewinnbringend anzusehen, bis . . .

Fragen wir einfach Mélanie Laurent selber, die nach der Ochsentour letzten Sommer durch 38 französische Städte – tagsüber Interviews zum Film und abends Premieren – wieder frisch ist. Und weil wir das erste Tabu (Filmschlüsse verrät man nicht!) sowieso schon gebrochen haben: Sagen wir ihr doch gleich, dass und warum wir den Film, ganz anders als ihre schauspielerische Leistung darin, nicht mögen. Wie würde sie sich denn verhalten, wenn Lilis Schicksal ihr selber widerfahren würde? „Meine Eltern und ich, wir haben ein nahes und offenes Verhältnis.“ Pause. „Aber Lilis Eltern und ihre Lüge verurteile ich nicht. Die Briefe helfen Lili doch, und ein ganzes Jahr vergeht. Wahrscheinlich wäre sie wirklich gestorben, wenn sie vorher erfahren hätte, dass ihr Bruder tot ist.“

Komisches Reden über den Tod. Komisches Reden mit einer 24-Jährigen, die – seit zehn Jahren Schauspielerin in kleineren Rollen – mit diesem Film, der überwiegend von ihrer natürlichen Präsenz lebt, „vom Schatten ins Licht“ getreten ist. Damit ist sie erwachsen geworden, wie ihre Heldin; und sie sagt auch, das war der letzte Film, in dem sie eine Heranwachsende spielte. „Diese Rolle: Das bin ich nicht mehr.“ Und dann kommt der schöne Nebenbei-Gedanke, für den die Begegnung sich lohnt. „Ich habe Lili so gespielt, als ahnte sie es schon. Manchmal wenigstens.“

Das könnte die Lösung sein. Eine Lüge, an der alle teilhaben, auch diejenige, für die sie erfunden worden ist. Kein Film mit Wissenden und einer Ahnungslosen, sondern ausschließlich mit seltsam somnambulen Komplizen, die gemeinsam einen Schicksalsschlag bewältigen, jeder im Wissen um jeden, und jeder schweigend für sich. Ein schöner Film eigentlich. Ein sehr anderer Film.

Filmkunst 66, FT Friedrichshain, Kulturbrauerei; OmU im fsk am Oranienplatz

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