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Peter Zadeks „Maß für Maß“ 1967 in Bremen, eine legendäre Inszenierung mit Edith Clever und Bruno Ganz.

© Ullstein bild

Regietheater: Liebling Bremen

Das Theatertreffen ist seit Jahrzehnten eine Hochburg des Regietheaters. Es wird bis heute heftig diskutiert - und ist längst legendär, mit Kultregisseuren wie Peter Zadek und Peter Stein. Bernd Wilms, der ehemalige Intendant des Deutschen Theaters Berlin, erinnert sich lebhaft daran, wie das Regietheater in den sechziger Jahren über uns kam.

Das Theatertreffen ist bekanntlich ein Produkt des Kalten Krieges. West-Berlin sollte kulturell glänzen. Da hätte man sich nichts Besseres ausdenken können in der eingemauerten, hoch subventionierten Stadt. Es gehe, steht in den ersten Festival-Drucksachen, um die Repräsentation des deutschsprachigen Theaters in Form der künstlerischen Konkurrenz, es sei ein Markt und Börsenplatz. Das klingt nach steigenden und fallenden Kursen und nach Sport und Meisterschaft und der Einrichtung einer Theaterbundesliga.

Das föderale Deutschland war ohne Zentrum, eben die Bonner Republik, und einmal im Jahr sollte Berlin eine Theatermetropole sein. Der weiland Bremer Intendant Kurt Hübner schrieb 1980, eine aufregende (na klar: auch „provozierende“) Provinzaufführung wie Peter Zadeks „Geisel“ „braucht die Bestätigung der Metropole; ein Streit in Bremen ließ sich mit dem Berliner Erfolg im Rücken leichter führen.“ Aber es zeigte sich auch, „dass die Metropole zwar noch ihren guten Ruf hatte, aber keine eigene Aufführung, die sich mit der ‚Geisel' vergleichen ließ.“

Im Mai also das ganze Theater in kürzester Zeit. Was damit ideologisch und kulturpolitisch gemeint war, konnte den Berlinern (und uns Berliner Studenten) ganz furchtbar piepe sein. Es war einfach praktisch. Es war Bescherung. Man musste nicht reisen (wozu unsereiner das Geld sowieso nicht hatte), man musste bloß Schlange stehen und war unverhofft mittendrin. 1967, kurz vor dem Ende meines Studiums, sah ich Else Lasker-Schülers traurig schöne Stadtballade von der „Wupper“, von Hans Bauer inszeniert, und ich fieberte einem Engagement in Wuppertal entgegen. Da wollte ich hin.

Es gibt gute Gründe, in der sehr veränderten Situation das Theatertreffen zu verteidigen. Die ursprünglichen Motive, fast alle, sind dahin. Keine Frontstadt mehr. Wir haben wieder eine Hauptstadt, aber ob sie das in jeder Hinsicht ist, darf wohl bezweifelt werden. Dass sich in der alten Bundesrepublik verschiedene Zentren herausgebildet haben, ist eine gute Sache geblieben. Wir besitzen, pathetisch gesprochen, ein kulturelles Erbe aus altföderalen Zeiten. Dafür lohnt es sich.

Die Zeit, von der hier die Rede ist, war eine Zeit des Aufbruchs. Im Theater war es vor allem: die Zeit, da eine neue Regiegeneration sich zu Wort gemeldet und durchgesetzt hat. Nicht zaghaft, sondern deutlich und laut. Darum ist es nicht verwunderlich, dass der Ausdruck Regietheater in den 70ern aufkam – als Modewort und sogleich auch als Schimpfwort, das falsche Alternativen (Werktreue contra Regiewillkür) hartnäckig provozierte.

Das Theatertreffen ist seit je ein Festival der Regisseure. Nicht so sehr, weil es angesagt ist, sondern weil ja nicht, zum Beispiel, die Stückeschreiber und die Qualität ihrer Texte ausgelobt werden, sondern die besten Aufführungen. Was die Entwicklung in den 60ern und 70ern betrifft, so muss man aber fragen, ob nicht andere Impulse ebenso wirksam waren wie solche der Regie. Oder noch wichtiger. Die Bildwelten des Theaters veränderten sich radikal. Wilfried Minks war nicht mehr einfach Bühnenbildner, sondern ein Bühnenbauer, dessen unerhörte Raumerfindungen die neue Regie erst ermöglichten. Seine Arbeit (und die der Schüler Karl-Ernst Herrmann. Erich Wonder, Johannes Schütz) ist also der Regiearbeit keineswegs nachgeordnet. Vielleicht fing mit den Räumen alles an.

In diesen Jahren war zuerst das Bremer Theater (wo Wilfried Minks zu Hause war) ein Liebling des Theatertreffens, danach kam die Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer. Sie galt hinfort als Deutschlands bestes und berühmtestes Theater. Liebling Bremen also. Peter Zadek mit „Frühlings Erwachen“ (1966 beim Theatertreffen), dann mit „Maß für Maß“ (1968) , schließlich Peter Stein mit „Torquato Tasso“ (1970). Die Kindertragödie „Frühlings Erwachen“ und Minks’ geniale Schiebewand mit dem Gesicht der englischen Filmschauspielerin Rita Tushingham. Große fragende Augen. Gewiss kein schönes Mädchengesicht, aber tauglich zur Ikone. Eine Verbündete der Wendla Bergmann, heute.

Ich erinnere mich an ein Detail in dieser Wedekind-Inszenierung. Da heißt es im Stück: „Frau Gabor sitzt, schreibt“. Sie schreibt an den verzweifelten Moritz Stiefel einen sehr langen Brief. Sie braucht auf der Bühne so viel Zeit, wie man zum Schreiben eines langen Briefes braucht. Extreme Zeitlupe. Zadek hat mutmaßlich argumentiert, er sei ein unverbesserlicher Realist. Ungeduld, Tumult, Empörung beim Theatertreffen. Die Erregungsbereitschaft war damals erstaunlich groß: nur ein Brief, wie im Leben.

Eine Gesellschaft, die eines Goethe’schen Fürstenhofes, gemeint ist aber die gegenwärtige – eine Gesellschaft hält sich ihren Intellektuellen, verächtlich, ohne Skrupel. Sie machen den Dichter zur Spottfigur. Das tut er selber auch. Tasso ist der Emotionsclown im Stück, und Bruno Ganz spielt ihn so. Einen Raum von extremer Künstlichkeit, Plexiglas und ein giftgrüner Kunststoffteppich im goldenen Portal, hat Wilfried Minks für eine Aufführung gebaut, die sich so sehr für die Form des Dramas interessierte: als dessen Inhalt.

Ganz am Schluss der Ära Hübner zeigte Klaus-Michael Grüber in Bremen „Das letzte Band“ von Beckett, mit Bernhard Minetti als Krapp. Krapp, der Mensch gewordene Affe, immer noch Bananen fressend, das letzte Exemplar der Gattung, ein Gespenst, ein Geisterspuk. Minetti war ganz allein auf der wüsten, leeren Bühne, drückte sich hinten an der Wand entlang, Wüst war dieses Theater deshalb, weil die Sanierung des Bühnenhauses bevorstand. Wo jetzt noch gespielt wurde, war schon fast alles abgerissen. Putz und Steine im Orchestergraben und ein kaputt geschlagenes Portal. Und weit hinten Minetti. In den Trümmern hielt Hübner danach eine lange Abschiedsrede und inszenierte sich den eigenen Rausschmiss.

Die längste Zeit, seit 1972, war ich als Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg bei Ivan Nagel. Die Jury hat sich oft für eine Hamburger Aufführung entschieden, kein Grund zur Klage. Ich erwähne das bloß, weil ich denke: Wenn schon diese Reminiszenzen lückenhaft und willkürlich sind, dann erklärt sich das auch daraus, dass dem Hamburger Blick manches entgangen ist. Und sicher ist der Blick parteiisch. Ich habe buchstäblich nicht alles gesehen.

Ehe er am Hamburger Schauspielhaus Intendant wurde, war der Kritiker Ivan Nagel 1971 Mitglied der Jury des Theatertreffens, und er hat sicher heftig (und ansteckend schwärmerisch) für eine Aufführung geworben, die dann beim Theatertreffen gar nicht gezeigt wurde, aber zum Glück an vielen Orten bei einer großen Tournee: Fritz Kortners letzte Inszenierung, Lessings „Emilia Galotti“ von der Wiener Josefstadt. Das bürgerliche Trauerspiel als bourgeoises Trauerspiel. Nicht den Aufbruch der neuen Klasse gegen den korrupten Adel hat Kortner beobachtet, sondern den Schrecken der Bürgerlichkeit selber – mit tödlichen Folgen. Nagel, der Essayist, hat seinen vielleicht schönsten Aufsatz über diese Inszenierung geschrieben, „Aufklärung über Aufklärung“. In Hamburg fing alles mit Kroetzens „Stallerhof“ an (Theatertreffen 1973). Ulrich Heising inszenierte mit der 17-jährigen Eva Mattes, die er für diese hamburgisch-bayerische Unternehmung in München entdeckt hatte. Die sehr genaue, harte und poetische Inszenierung erzählte eine ganz unmögliche Liebesgeschichte, und Eva Mattes als debiles, hilfloses Bauernkind stand im Zentrum: nicht mit der Zufallswirkung eines Naturtalents, sondern dem ganzen Reichtum schauspielerischen Ausdrucks.

Peter Zadek, der Intendant in Bochum war, hat zweimal in Hamburg inszeniert, nämlich Ibsens „Wildente“ (Theatertreffen 1975) und dann den „Othello“ (1977). Ja, gewiss doch, das ist die Veranstaltung, in der ein unförmiger Ulrich Wildgruber die unförmige Desdemona der Eva Mattes nackt über die Wäscheleine wirft – und die einen Premierentumult auslöste, dem das Wort Theaterskandal nicht gewachsen ist.

Es sieht wie eine pflichtschuldige Ergänzung aus und sollte es zumindest nicht sein. Es gab den bewunderten Konservativen Rudolf Noelte, und seine Arbeit, zwischen Strindbergs „Todestanz“ (mit Bernhard Minetti, 1972) und den Hauptmann’schen „Ratten“ (mit Will Quadflieg als Hassenreuther, 1978) bildete das entscheidende Gegengewicht, auch für das Theatertreffen. Noelte war der Anti-Zadek, was Ästhetik und Methode angeht. Es wird glaubhaft behauptet, dass Noelte den Text eines Stückes auf Tonband sprach, damit die Schauspieler ihn nachsprechen konnten.

Ein Fehling-Schüler wie Noelte war auch Hans Bauer. Nach der "Wupper" war es „Arthur Aronymus und seine Väter“, also das noch seltener gespielte Stück der Else Lasker-Schüler, das 1969 aus Wuppertal nach Berlin kam. Vielleicht gehört in die Nähe dieser Konservativen auch Samuel Beckett, der Regisseur, der in Berlin so eindrucksvoll die Stücke des Dichters Beckett inszenierte.

1982 schrieb Günther Rühle über „Die herrschende Generation“ der Regisseure: „Die Rebellen von einst sind die Etablierten von heute.“ Sie haben sich lange gehalten und haben es den Nachfolgenden schwer gemacht, weil die neuen Väter nicht Väter sein wollten, sondern bloß ewig jung. Was sollen wir denn tun, wenn die routinierten Revolutionäre schon alles ausprobiert haben? Die Fixierung auf die Regie und die Verzweiflung der Talentsucher haben auch dazu geführt, dass Begabungen schnell verschlissen wurden. Hier eine auffällige Inszenierung, und der Regisseur war ein gemachter Mann – und morgen schon nicht mehr. Es hat eine Weile gebraucht. Erstens gibt es heute Regisseure, die an Hochschulen ausgebildet sind und nicht in der Theaterpraxis. Das ist ein Kapitel für sich. Wichtiger ist aber, dass heute diejenigen erfolgreich Theater machen, die von den Vätern, den Übervätern unbelastet sind, diejenigen also, die einen Marivaux von Luc Bondy oder Claus Peymanns „Hermannsschlacht“ gar nicht kennen. Sie pfeifen darauf, nun ihrerseits mit dem Refrain: Jetzt sind wir dran.

Bernd Wilms war von 2001 bis 2008 Intendant des Deutschen Theaters Berlin. Sein (hier gekürzter) Text ist dem Buch „Fünfzig Jahre Theatertreffen“ entnommen (270 S., 25 Euro), das zum Jubiläum im Verlag Theater der Zeit erscheint.

Bernd Wilms

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