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Kultur: Liftboy auf Himmelfahrt

Schon als Roman unvollendet: Kafkas „Amerika“ im Berliner Maxim-Gorki-Theater

Es ist nicht die lodernde Fackel, mit der die bekannte Statue am Hafen von New York den Ankömmling aus Europa begrüßt, sondern statt des Fanals der Freiheit erblickt der 17-jährige Karl Roßmann in der himmelwärts erhobenen Hand der steinernen Göttin ein Schwert. Eine bedeutungsvolle Verwechslung! Was den Helden des Romans von Franz Kafka in Amerika erwartet, ist nicht ein freies Leben nach eigener Lust und Laune. Das Schwert, das dem Krieger zum Kampf dient wie dem Scharfrichter zur Vollstreckung des Todesurteils, verheißt Karl vielmehr eine Zukunft, in der Selbstbehauptung immer neue Anstrengungen erfordert – das Risiko des Scheiterns inbegriffen. Eine trübe, ja düstere Aussicht, von der der junge Deutsche bei seiner Ankunft noch nichts ahnt, und so strahlt auch der Schauspieler, der die Romanfigur in der Aufführung des Berliner Maxim-Gorki-Theaters verkörpert, anfangs ein frisches Selbstbewusstsein aus: Felix Rech, schlanker Jüngling mit lockigem Haar, tritt an die Rampe und erzählt dem Publikum ganz unbefangen, wie sein Karl jenes ominöse Schwert erkannt habe.

Welches Ende die Geschichte des Karl Roßmann nimmt, ist eine Frage, die das Theater zwei Stunden später beantworten sollte. Die Literaturwissenschaft dagegen muss sie offen lassen: Kafka hat seinen Romanerstling nach sechs Kapiteln im Januar 1913 abgebrochen. Max Brod, der den Torso 1927, drei Jahre nach dem Tod des Autors, unter dem Titel „Amerika“ herausgab, räumte später ein, dass Kafka selbst das Werk in seinen Tagebüchern pessimistischerweise „Der Verschollene“ betitelt hat. Aus Gesprächen mit dem Freund aber meinte er zu wissen, dass das unvollendete Schlusskapitel über das „Naturtheater von Oklahoma“ für den umgetriebenen Helden versöhnlich ausklingen sollte, „wie durch paradiesischen Zauber“. Im Widerspruch dazu steht allerdings eine Tagebuchnotiz Kafkas vom September 1915, die Karl Roßmann in Beziehung setzt zu Josef K., dem von zwei Henkern hingerichteten Protagonisten seines „Prozess“-Romans: „Roßmann und K., der Schuldlose und der Schuldige, schließlich beide unterschiedlos strafweise umgebracht ...“

Die Folge von Abhängigkeiten, in die sich Karl, von seinen Eltern wegen einer Affäre mit einem Dienstmädchen verstoßen, in der Neuen Welt verstrickt, steigert sich bei der Lektüre zu alptraumhafter Beklemmung. Der Romanleser sieht alles mit den Augen des Helden, das Theaterpublikum indes schaut aus der Distanz zu, und da verkehrt sich, was dort monströs wirkt, hier ins Groteske – Karl macht sich mitunter einfach lächerlich. So schon in der Anfangsszene, die noch auf dem Schiff spielt: Karl setzt sich da in schöner Redlichkeit beim Kapitän für einen angeblich ungerecht behandelten Heizer ein, muss sich jedoch von seinem reichen Onkel, der ihn in Amerika zu seinem Glück empfängt, der Naivität zeihen lassen: „Lerne deine Stellung begreifen.“

Der Ruf aus Oklahoma

Regisseur Stephan Müller, zusammen mit dem Dramaturgen Remsi Al Khalisi auch Autor der Textfassung, pointiert das heikle Verhältnis des armen Jungen zu seinem Mentor, indem er dessen Rolle mit Hilmar Baumann besetzt – einen Kopf kleiner als der Neffe, spricht er sein Machtwort in einem ernsten Ton, der ihn als Respektsperson ausweist. Ein Pedant dazu, wacht er peinlich genau über Karls Englischunterricht, den ihm seine Familie und sein Personal erteilt, einschließlich der Menschenrechte auf „Life, Liberty and the pursuit of Happiness“, eingefordert von einem Diener, der eine breit grinsende Negermaske trägt. Das Thomas-Jefferson-Zitat ist eine Zugabe der Regie, ein satirisches Streiflicht auf das Land, in dem „all men are created equal“, manche Leute jedoch aus härterem Holz geschnitzt sind. Als Karl sich anschickt, sein Glücksbedürfnis ohne des Onkels Erlaubnis zu stillen, handelt er sich einen Abschiedsbrief des strengen Herrn ein. Ein Vagabund mit Koffer und Regenschirm, kann er froh sein, als er im Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine Stelle findet, die ihm in der Tat die Möglichkeit bietet, „zu etwas Höherem zu gelangen“ – als Liftboy nämlich.

Die im „Hotel Occidental“ spielende Romanpassage ist zugleich die am ehesten zur Dramatisierung geeignete: Esther Bialas, die Ausstatterin des Abends, lässt da rote Läufer ausrollen, Fahrstühle auf und nieder sinken, und der Regisseur hat seinen Spaß daran, das Personal akkurat nach Dienstgrad aufmarschieren zu lassen. Mit Ausnahme Felix Rechs, der einzig die Aufgabe hat, seinen Karl auf flinke Beine zu stellen, haben alle anderen Schauspieler abwechselnd mehrere Rollen zu stemmen: Hilmar Baumann gibt hier den Oberportier, Rainer Kühn den Oberkellner, Ruth Reinecke die Oberköchin, Thomas Bischofberger, Hans-Jochen Wagner und Jewgeni Sitochin figurieren flott und frech als Pagen, Anya Fischer schließlich scharwenzelt als Sekretärin um den frisch gebackenen Liftboy herum, in erotischer Konkurrenz mit Madame Oberköchin. Armer Karl! Er hat keine Chance gegen so viel dominante Führungskraft.

Am Ende folgt er dem Ruf des geheimnisvollen „Theaters von Oklahoma“, das jeden, aber auch jeden willkommen heißt, und trollt sich in die Nacht. Was ihn in diesem Theater erwarten mag, verrät das Maxim- Gorki-Theater nicht. Es hat zu Kafkas dunklem Roman nichts Erhellendes beizutragen – es sei denn die Anregung, wieder einmal zum Buch zu greifen.

Nächste Vorstellungen am 26. Februar sowie am 11., 22. und 30. März.

Günther Grack

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