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Der zwölfjährige Andrea (Luana Giuliani) hat ein gespaltenes Verhältnis zu seiner Mutter (Penélope Cruz).

© prokino

„L’immensità“ im Kino : Coming-of-Age eines trans Jungen

Der italienische Regisseur Emanuele Crialese verarbeitet in „L’immensità – Meine fantastische Mutter“ seine Kindheit in den 1970ern. Doch Penélope Cruz überstrahlt alle.

Von Andreas Busche

„Ich bin aus einer anderen Galaxie”, erklärt der zwölfjährige Andrea seiner Mutter. Ein Gefühl, dass Clara gut nachvollziehen kann. Es sind die 1970er Jahre in Italien, sie lebt in einer lieblosen Ehe mit einem autoritären Ehemann in der römischen Vorstadt. Die drei Kinder nehmen die Spannungen am Esstisch der Borghettis wahr, doch der Älteste Andrea ist der Einzige, der eine eigenständige Position zwischen den streitbaren Parteien etabliert hat. Er protestiert dagegen, von der Mutter mit seinem Geburtsnamen Adriana angesprochen zu werden; gleichzeitig fungiert der Vater auch nicht als leuchtendes männliches Vorbild.

Die Freiheit hinter dem Schilf

Wenn die Kinder unter sich sind, außerhalb der Kontrolle der Eltern, erkunden sie ihre Freiheiten – für Andrea öffnen sich allerdings auch neue Perspektiven. Hinter dem Schilf gegenüber der Neubausiedlung entdeckt er eine andere Welt, hier lebt eine Gruppe Nomaden in einer Bauwagensiedlung. Die Szene, als die Geschwister neugierig durch die grüne Wand treten, erinnert an „The Wizard of Oz“. Ein Märchen.

„Seid ihr Zigeuner?“, fragt Andreas kleine Schwester das Mädchen, das die Eindringlinge misstrauisch beäugt. „Nein, das ist eine Arbeitersiedlung“, entgegnet Sara bestimmt. Sprache, das wissen schon die Kinder, kann verletzen. Und darum insistiert Andrea immer vehementer darauf, mit dem Namen gerufen zu werden, der sich für ihn richtig anfühlt.

Das Familiendrama „L’immensità – Meine fantastische Mutter“ des italienischen Regisseurs Emanuele Crialese ist in den ausgeblichenen Farbe einer nostalgischen Sommerfantasie gehalten, doch die patinierten Erinnerungen an die 1970er Jahre wirken alles andere als sehnsuchtsvoll. Es gibt keinen Raum für Nonkonformismus, die katholische Glaube ist tief in den Familien verankert. Clara, gespielt von Penélope Cruz, fleht Felice (Vincenzo Amato) um eine Scheidung an, aber der erklärt sie nur für verrückt.

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Auch Andrea wird mit seinem Wunsch, ein Junge zu sein, von niemandem ernst genommen, dabei spiegelt sich das Unbehagen und die Verzweiflung im Gesicht der beeindruckenden Debütantin Luana Giuliani. Mit seiner klaustrophobischen, fast erstickenden Atmosphäre erinnert das häusliche Drama „L’immensità“ an die Melodramen eines Douglas Sirk – nur dass bei Crialese der bürgerliche Puritanismus immer wieder Transzendenz in der Kino-Erzählung sucht.

Penélope Cruz’ Glamour irritiert

Wenn Andrea vor dem Fernseher (oder in der Kirche) tagträumt, steht er mit seiner Mutter plötzlich auf einer Showbühne. Es ist – anders als in „The Wizard of Oz“ – eine Schwarz-Weiß-Fantasie: er im androgynen Mantel-Outfit, sie mit blonder Perücke. Der Glamour der Mutter (beziehungsweise der von Cruz) fasziniert Andrea, trotz eines unbewussten Abwehrreflexes. Das ambivalente Verhältnis von Mutter und Sohn doppelt sich in der Perspektive der Kamera, die sich nicht entscheiden kann zwischen einem schwärmerischen male gaze und dem kritischen Blick des Jungen, der die Rollenmodelle und die Heteronormativität der italienischen Kernfamilie schon überwunden hat.

Es ist ein schmaler Grat zwischen Kitsch und Naturalismus, den der italienische Regisseur in seinem ersten Film seit elf Jahren beschreitet. Das hat wesentlich auch mit der Präsenz von Cruz zu tun, die in jeder ihrer Szenen alle Aufmerksamkeit absorbiert. „Warum bist du nur so schön?“, beschwert sich Andrea einmal, nachdem Clara von einer Gruppe Männer auf der Straße regelrecht verfolgt wurde.

„Warum bist du nur so schön?“: Penélope Cruz leidet in „L’immensità“ glamourös.
„Warum bist du nur so schön?“: Penélope Cruz leidet in „L’immensità“ glamourös.

© prokino

Sein Unbehagen wird von Gergely Pohárnoks Kamera konterkariert, die auf das Stargesicht geradezu fixiert ist: wenn Cruz sich vor dem Schlafengehen die falschen Wimpern abnimmt, wenn Tränen ihr Make-up verschmieren oder Clara in einem Anflug von kindlicher Rebellion mit Andrea und seinen jüngeren Geschwistern bei einem Familiendinner unter dem Tisch verschwindet. (Was diesem wiederum peinlich ist.) Penélope Cruz ist der Fixpunkt von Crialeses Film, was den missverständlichen deutschen Titel vielleicht sogar rechtfertigt..

Die Biografie des Regisseurs

Denn eigentlich ist „L’immensità“ die Geschichte des Regisseurs, der bei seiner Geburt 1965 noch als weiblich identifiziert wurde. In diesem Zusammenhang wirft das Verhältnis zur Mutter – das im Drehbuch unterentwickelt bleibt – noch einmal ein besonderes Licht auf den Film; ebenso wie die Besetzung von Andrea mit einer Darstellerin. Sie gehört zu den vielen künstlerischen Entscheidungen, die Crialeses Absichten eher im Weg stehen. Dafür, dass er seine eigene Geschichte erzählen möchte, lösen sich Andreas Erfahrungen zu selten von den erwachsenen Bezugspersonen.

Sara (Penélope Nieto Conti) ist der einzige Mensch, der seine Entscheidung nicht hinterfragt – im Gegensatz etwa zum Sohn einer befreundeten Familie, der fragt, ob Andrea mit ihm „gehen“ will. („Warum hältst du nicht einfach die Klappe?“, antwortet der nur.) Diese Selbstverständlichkeit fehlt „L’immensità“, trotz seines behutsamen Tonfalls, in den entscheidenden Momenten. Der Fluchtimpuls, man kann es verstehen, überwiegt.

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