Kultur: Liszt und Tücke
Das Musikfest Berlin 2011 geht mit einer Höllenfahrt zuende
Es ist doch immer wieder dasselbe: Vorfreude kommt auf, wenn das Musikfest Berlin nordamerikanische Orchester einlädt. Weil der Bund das von den Berliner Festspielen ausgerichtete Herbstfestival finanziert, können die Spitzenensembles aus das USA subventioniert in der deutschen Hauptstadt auftreten – die sie sonst auf ihren Europa-Tourneen wegen des hiesigen niedrigen Eintrittspreisniveaus oft meiden müssen. Sitzt man dann allerdings abends im Saal und hört dem Philadelphia Orchestra zu oder dem Pittsburgh Symphony Orchestra, stellt sich Ernüchterung ein. Mit dem Aussterben der Exilanten-Generation ist ein gedanklicher Faden abgerissen: Wenn es darum geht, tief in die zentraleuropäische Geistesgeschichte vorzudringen, romantische Künstlerfantasien nachzufühlen wie bei Berlioz’ „Symphonie fantastique“ oder die Dekadenzphase der k. u. k. Monarchie wie im Fall von Gustav Mahlers Fünfter, dann stoßen die amerikanischen Interpreten schnell an ihre Grenzen. Da bleibt es dann bei technisch präzisem Oberflächenmusizieren.
Wolfgang Rihms Kompositionen dagegen sind bei den Gästen aus Übersee in guten Händen. Mit der Aufführung von 13 Werken ehrt das Musikfest Berlin den 59-Jährigen, der sich immer mehr zu einer Art Richard Strauss des 21. Jahrhunderts entwickelt. Traditionsverbunden und publikumswirksam, ungemein kreativ in allen Genres, ein Virtuose der Instrumentationskunst, der seine Ausnahmestellung zu genießen versteht. Optisch erinnert Rihm allerdings eher an einen anderen Kollegen – nämlich den späten Georg Friedrich Händel, den seine Freunde anerkennend „Mannberg“ nannten.
Winrich Hopp, der künstlerische Leiter des Musikfests, will mit seinen Programmen das ganze Publikum ansprechen. Darum lagert er Zeitgenössisches nicht bequem in Extra-Reihen aus, in denen dann wieder nur die Kenner sitzen. „Dass sich die Neue Musik immer abseitsstellt, ist in den vergangenen 50 Jahren herbeidiskutiert worden“, findet Hopp. In Wahrheit aber würden sich die lebenden Komponisten intensiv mit den Traditionen auseinandersetzen, so wie Hans Zender mit dem Oratorium oder eben Rihm mit der großen Sinfonik.
Für Luigi Nono war das mehrchörige Singen sehr wichtig, wie es um 1650 in seiner Heimatstadt Venedig durch die besondere Architektur von San Marco entstehen konnte: Die Ensembles schickten dabei ihre Töne von den verschiedenen Emporen in den weiten Kirchenraum. So ein Surround-Sound-Erlebnis bietet auch Nonos Spätwerk „Prometeo“. Zweimal wurde das extrem aufwendige Stück im ausverkauften Kammermusiksaal realisiert: der Höhepunkt dieses Musikfests.
Genau dafür sind Festivals ja da – um Projekte zu verwirklichen, für die im Alltag nie genug Zeit, genug Kraft da ist. Und vielleicht auch nicht genug Konzentration. Denn Nono verlangt mit der „Tragödie des Hörens“ von seinem Publikum nicht weniger, als die Stille zu hören.
Dass im Übrigen bei den Kritikern diesmal nur wenige Musikfest-Abende auf Euphorie stießen, spricht nicht gegen das Festival. Wer aus dem Kanon der unbestrittenen Meisterwerke ausbricht, wer die Orchester überredet, Abseitiges zu spielen, trägt auf jeden Fall zur Horizonterweiterung bei. Auch wenn man auf manche Werke gut hätte verzichten können, wenn man es bei anderen – wie Busonis Klavierkonzert – gerne beim einmaligen Kontakt belässt. Die 35 000 verkauften Tickets jedenfalls machen deutlich, wie neugierig die Hauptstädter mittlerweile auf die klug geknüpften Gedankennetze Winrich Hopps sind.
Um Luigi Nono geht es noch einmal beim Abschlusskonzert: Maurizio Pollini spielt „... sofferte onde serene ...“ für Klavier und Tonband im Dialog mit sich selber. Denn der Widmungsträger des 1976 entstandenen Stücks hat einst die Tonspur eingespielt, auf die er jetzt reagiert, teils echohaft, teils kontrapunktisch, ein Zwiegespräch der beiden Seelen, die, ach, nicht nur in Fausts Brust wohnen. So schwer es Pollini zu Beginn gefallen war, sich gedanklich auf Mozarts A-Dur-Klavierkonzert zu fokussieren, so mühelos trafen Daniel Barenboim und seine Staatskapelle sofort den idealen, lebensvollen Wiener-Klassiker-Ton.
Eine geistreiche Tändelei vor der Höllenfahrt. Wenn es einen Dirigenten gibt, von dem man Franz Liszts wüst wuchernde „Sinfonie zu Dantes Divina Commedia“ hören will, dann ist es Barenboim. Packend wie das „Walküre“-Vorspiel lässt er das Inferno brodeln, emphatisch blüht der Liebesgesang von Francesca und Paolo auf, bevor erneut Flammen zwischen den Füßen des Paares emporzüngeln. Im Purgatorio wird das Volk – wie feinsinnig! – mit einer endlosen Fuge gequält. Dann ertönen unsichtbare Engelsstimmen: die Damen des Staatsopernchors, die Barenboim von den höchsten Höhen der Philharmonie in Block G singen lässt. Was für ein Theatereffekt! Was für ein schöner, versöhnlicher Abschluss.
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