zum Hauptinhalt

Kultur: Literarischer Systemvergleich: Brigitte Burmeister über die Konstruktion von Identitäten - in Ost und West

Kurz ist die Meldung im "Vermischten": Eine Buchhändlerin hat mit gezielten Schüssen Kunstgegenstände im Haus eines ihr unbekannten Managers zerstört. 300 Seiten lang ist der sich um die rätselhafte Meldung rankende Roman.

Kurz ist die Meldung im "Vermischten": Eine Buchhändlerin hat mit gezielten Schüssen Kunstgegenstände im Haus eines ihr unbekannten Managers zerstört. 300 Seiten lang ist der sich um die rätselhafte Meldung rankende Roman. Er besitzt vier in Ost und West spielende Ebenen, auf denen die Ereignisse umschrieben, umgeschrieben werden. Ein Palimpsest löst die Illusion des "So ist es gewesen" in ein Spiel von Varianten auf und zieht den Leser in seinen Bann. Vordergründig fasziniert Brigitte Burmeisters neuer Roman "Pollok und die Attentäterin" durch die Lebensläufe, die nicht den großen Linien der Geschichte folgen, sondern ihre eigenen, die krummen Wege des Menschen gehen.

Die ehemalige DDR-Bürgerin Burmeister verteidigt das Besondere gegen das Allgemeine, das Subjekt gegen Wille und Vorstellung der Partei - und gegen die im Westen vorherrschende Meinung, es hätte dieses Subjekt im SED-Staat gar nicht gegeben. Der West-Berliner Pollok ist der Liebhaber der Attentäterin Roswita. Er verfasst als Ghostwriter die Autobiographie des Managers Karl Weiss, der in der DDR erfolgreich war, bevor er vor 1961 in die Bundesrepublik floh und erneut Karriere machte. Seinen Ghostwriter informiert Weiss nur bruchstückhaft über sein Leben; Pollok muß erfinden, aus Biographien anderer zitieren. Vor solch unvollständigen Puzzlen stehen auch alle anderen Personen: Nur andeutungsweise spricht die inhaftierte Attentäterin Roswita mit der Reporterin Ines über den verschwundenen Pollok; die Lücken füllt die Journalistin mit Details ihrer letzten Liebesgeschichte. Diese Texte gibt Ines an Renate weiter, nachdem sie ihr von den Recherchen berichtet hat, und die arbeitslose Literaturwissenschaftlerin erweckt Pollok und Roswita schreibend zum Leben - zur Literatur.

Wie Zwiebelhäute legen sich die Erzählungen übereinander. Öfter glaubt die Ich-Erzählerin Renate, etwas schon einmal anderswo gelesen zu haben. Leben und Texte durchdringen sich. Weil die Erzählungen Texte sind, werden sie von allen schreibenden Romanfiguren einer "Materialprüfung" unterzogen. Fällt das Urteil negativ aus, wird die Geschichte erzählend vervollständigt. So bündeln die Forderungen nach Kohärenz und Wahrscheinlichkeit die vier Ebenen zu einem Roman über Biographien und ihre Erfindung. Brigitte Burmeister erzählt ohne begriffliche Anstrengung von der Auflösung der Subjekte und verabreicht zugleich die Arznei der literarischen Erfindung.

Staunenswert leichthändig hält die Literaturwissenschaftlerin und ehemalige Mitarbeiterin der Akademie, die in ihren Romanen (unter dem Namen Norma) immer vom Konstruktionscharakter der Wirklichkeit erzählt, alles in der Schwebe. Wie es wirklich war, weiß nicht einmal die Autorin; über die Varianten entscheidet allein die ästhetische Urteilskraft des Lesers. Diese Offenheit wird durch existenzielle Erschütterungen bewirkt (offenbar gibt es also doch "wirkliche" Wirklichkeit): Alle Personen leiden unter dem "Verlust eines Schutzes" - mal ist es Hindenburgs Tod, mal der des Vaters, der Verrat des Geliebten, die Arbeitslosigkeit. Schicksalsschläge lassen die Figuren wanken, ihre Biografien in Ost wie West dunkel werden. Warum schießt Roswita auf Möbel, warum verschwindet Pollok? War Weiss ein Denunziant, bevor er im Westen Karriere machte?

Der Stasi-Verdacht ergibt sich aus Widersprüchen in der von Pollok verfassten Autobiografie des Managers. Mit Hilfe der Textanalyse also zeiht Burmeister das bundesrepublikanische Establishment der Verstrickung in das Netz der Genossen von der unsichtbaren Front. Überraschend gerät "Pollok und die Attentäterin" zum literarischen Systemvergleich, mahnt Vorsicht im Urteil über die DDR an: der Westen ist dem Osten näher, als er denkt. Mehr kann man im zehnten Jahr des Mauerfalls nicht verlangen. Über die Wiedergeburt des Ost-Selbstbewusstseins aus dem Geist der Ästhetik mag man geteilter Meinung sein, nicht aber darüber, daß "Pollok und die Attentäterin" ein spannender Roman über die Konstruktion von Identitäten ist.Brigitte Burmeister, Pollok und die Attentaeterin. Klett-Cotta, 1999. 306 S. , 39,80 DM.

Jörg Plath

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false